Die Göttin der kleinen Siege
war nie eine fleißige Briefeschreiberin. Dieses Mal habe ich eine gute Entschuldigung für mein langes Schweigen. Ich war in den letzten Wochen sehr beschäftigt. Ich habe nun doch die Stelle als Krankenpflegerin bei dem Ehepaar angenommen, das Peter als Gärtner beschäftigt. Diese kleinen Alten haben mir leid getan. Sie brauchen wirklich eine Vollzeithilfe, vor allem die arme Frau. Sie ist an den Rollstuhl gefesselt. Also muss er sich um die Einkäufe und den Haushalt kümmern. Du kannst Dir problemlos vorstellen, in welchem Zustand das Haus bei meiner Ankunft war. Mir wurde schnell klar, dass ich neben meiner Arbeit als Krankenschwester auch noch Haushälterin, Köchin und „ Grannysitter “ spielen muss. Die Gödels sind seit fünfzig Jahren zusammen. Wenn ihre Lage nicht so tragisch wäre, könnte ich diese alte Liebe wundervoll finden. Sie haben keine Kinder und leben äußerst zurückgezogen. Frau Gödel leidet sehr darunter. Sie ist hingerissen, dass sie nun wieder plaudern kann. Sie ist genauso ein Waschweib wie ich!
Wie soll ich Dir dieses seltsame Paar schildern? Herr Gödel ist anscheinend ein Genie. Ich kann das nicht beurteilen. Er ist ein komischer Mann, manchmal ist er sehr nett, oft aber sagt er kein Wort. Tag und Nacht verschanzt er sich in seinem Arbeitszimmer. Er isst sehr wenig, und wenn, dann nicht, ohne hundertmal an seinem Essen zu schnuppern oder es zu betasten. Seine Frau sagt, er habe Angst, vergiftet zu werden. Er ist so dürr, dass einem angst wird – in der Tat ein wandelndes Skelett. Adele Gödel hingegen ist sehr korpulent. Sie leidet unter zahlreichen Altersbeschwerden, ist aber nachlässig, was die Behandlung angeht. Doch sie ist noch ganz klar im Kopf und sorgt sich ständig um das Wohlbefinden ihres labilen Mannes.
Ich kann nicht feststellen, worunter Herr Gödel eigentlich wirklich leidet. Sein Arzt hat mir nur Ratschläge gegeben, was ich gegen seine Prostataprobleme tun soll, denn er wollte sich nicht operieren lassen, er lief lieber mit einer Sonde herum und riskierte damit eine schwere Niereninfektion. Der arme Mann nimmt heimlich eine unvorstellbare Menge Medikamente ein, die gar nicht notwendig sind. Wir haben zusammen im Krankenhaus gearbeitet – Du kannst Dir also selbst ein Bild machen. Ich habe alles aufgelistet, was er einwirft. Magnesiamilch gegen sein Magengeschwür. Metamucil gegen Verstopfung. Diverse Antibiotika: Achromycin und Terramycin , Cephalexin , Mandelamin , Macrodantin , Lanoxin und Quinidin , obwohl er gar keine Herzstörungen hat. Und um das schmackhafte Menü abzuschließen: Laxative wie Imbricol und Pericolase . Ich bin zwar an die Verwüstungen durch das Alter gewöhnt, aber hier fehlen mir die Worte. Letztes Frühjahr hat er einer Operation zugestimmt. Im Krankenhaus hat er einen Eklat verursacht, er hat seinen Katheter herausgezogen und gesagt, er wolle nach Hause, als sei nichts gewesen. Wir hatten schon schwierige Patienten, Jane, aber der da kriegt die Goldmedaille.
Ich will Dich nicht länger mit meinen Geschichten von den Alten langweilen. Du hattest die ganzen Jahre über ausreichend damit zu tun. Mir selbst geht es sehr gut. Ich lehne weiterhin Deine Theorie ab – das Alter ist keine ansteckende Krankheit! Schreib mir bald, ich kann es gar nicht erwarten, von Deinen neuen Abenteuern zu lesen. Was für eine Idee, ans andere Ende der Welt zu ziehen! Wenn ich Dich nicht so mögen würde, würde ich es Dir eher vorwerfen. Aber Du hast wirklich die Sonne verdient.
In aller Freundschaft,
Beth
Princeton, den 2. April 1975
Liebe Jane,
Du bist immer eine gute Ratgeberin, aber ich habe es nicht über mich gebracht, zu kündigen. Ich kann Adele in dieser Situation nicht allein lassen. So gemein bin ich nicht. Dieser Mann macht mich noch verrückt! Wie hat sie ihn so viele Jahre tagtäglich ertragen? Er ist nicht böse, aber er saugt einen aus! Bei jedem Essen muss ich kämpfen, um ihm auch nur einen Hauch von Nahrung zu verabreichen. Man muss ihm schmeicheln, ihn anflehen oder ihm drohen, damit er zwei Stückchen Karotte isst. Er nimmt am Tag höchstens ein Ei und zwei Löffelchen Tee zu sich. Jeden Morgen fragt er mich, ob ich daran gedacht hätte, Orangen zu kaufen, dann aber will er sie nicht essen. Würde ich Adele nicht so mögen (ich höre Dich hier sagen, dass ich „Mitleid“ hätte), wäre ich schon lange auf und davon! Keiner hat mehr den Nerv, seine „Zerstreutheit“ in Kauf zu nehmen, abgesehen von seinem alten
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