Die Göttin der kleinen Siege
Dame befahl Anna, sich herunterzubeugen, und berührte sie mit dem Zeigefinger zwischen den Augen.
„Sie müssen Ihren Geist öffnen. Sie sind überall total eingerostet.“
„Ich habe gelernt, meinen Verstand zu gebrauchen. Ich sammle Fakten und ziehe Schlüsse daraus. Ich sperre mich gegen jede Form von Esoterik.“
„Ja, Sie sind umständlich, aber es gibt kürzere Wege zum Licht – diejenigen, wo Ihre kleinen Zahnrädchen hohldrehen. Wo selbst die Wörter, die Sie so lieben, nutzlos sind.“
Sie betraten ein Zimmer, das vollstand mit Sachen, die Vorhänge waren zugezogen. Im Halbdunkel erkannte Anna aufgereihte Staffeleien und ordentlich gestapelte Bilderrahmen – es war das kunsttherapeutische Atelier, das für die Attentate auf die Wände des Heims verantwortlich war. Der Geruch von Terpentin mischte sich in den süßlichen Gestank der Duftkerzen, die auf einem runden Tischchen standen. Am Tisch saß Jack neben dem unausweichlichen rosa Angorapullover. Adele stellte Anna drei Personen vor, die sie noch nicht so gut kannte – Gwendoline, Maria und Karl. Gladys, geschmückt mit einer auffälligen, strassbesetzten Brille, stand auf und umarmte sie. „Da ist ja unsere alte Seele!“ Anna wich unter dem Ansturm zurück. Maria, eine Achtzigjährige, deren Gesicht hinter einer dicken Brille verschwand, warf ihr einen Blick zu, der sie zu Stein erstarren lassen sollte. Gladys machte ihr ein Zeichen, dass sie still sein solle. „Meine Freunde, heißen wir unsere neue Teilnehmerin willkommen! Wir haben uns schon über die Tagesordnung verständigt und beschlossen, die Anrufung Sergei Wassiljewitsch Rachmaninows zu verschieben. Obwohl ich die Russen sehr mag!“ Maria fühlte sich bemüßigt, Anna gegenüber, die gar nicht danach gefragt hatte, das Interesse der Verstorbenen an Genauigkeit zu betonen. Gladys nahm ihre Brille ab, ihre Augen funkelten vor Aufregung. „Jack ist ein bisschen enttäuscht, dass er nicht mit seinem Idol sprechen kann, aber das machen wir nächstes Mal. Heute rufen wir Elvis Aaron Presley an! Wissen Sie, dass ich den Namen seiner lieben Mama trage?“
Anna musste sich beherrschen, nicht zu lachen. Als Verstandesmensch war sie in der Minderheit und würde sich ihren Sarkasmus für später aufsparen. Sie schob Adele an den Tisch, dann setzte sie sich auf den letzten freien Platz neben den Musiker. Sie sah, wie er ihr mit seinem gesunden Auge zuzwinkerte, er schien den Abend zu genießen. Auch Anna müsste dies versuchen. Es wäre ein einzigartiges Weihnachtsfest, und es hatte gar nichts von der abgeschmackten, tristen Zwangsfreude, die sie mit diesen Leutchen, die verlassen am Ende ihres Lebenswegs standen, teilen zu müssen geglaubt hatte. Gladys rutschte auf ihrem Stuhl herum, sie konnte es nicht erwarten, die Séance zu eröffnen.
„Nach eingehender Beschäftigung mit Ihrem Leben, Miss Roth, haben wir Ihnen einen Engel an die Seite gestellt. Gabriel wird in dieser Welt Ihr Schutzengel sein. Sie sind die Gottesbotin.“
„Wer sagt das?“
Mit ihrer extrem rauchheiseren Stimme protestierte Maria gegen die negativen Schwingungen der jungen Neuen. Adele freute sich diebisch über das verdutzte Gesicht ihrer Begleiterin.
„Seien Sie locker, meine Schöne. Ich selbst stehe unter den Fittichen von Michael, dem Befreier.“
Alle am Tisch nahmen sich an der Hand. Anna gab ihre linke der kalten, roten Hand Adeles, ihre rechte der ständig trommelnden linken von Jack. Wie sollte sie sich in dieser absurden Umgebung entspannen? Sie hatte Hunger. Diese Alten würden es mühelos bis Mitternacht aushalten, bis es Essen gab. Der Weihnachtsmann hatte wohl Amphetamine verteilt. Gladys psalmodierte: „Aor Gabriel Tetraton Anaton Creaton.“ Anna verschloss lieber die Ohren vor diesem Blödsinn. Elvis Presley? Angesichts der mittelmäßigen Blumensträuße, die in diesem Malsaal ausgestellt waren, hatte wohl noch niemand Van Gogh angerufen.
Gladys weckte sie. „Rock ’n’ Roll, Anna! Seien Sie nicht die Älteste von uns!“
Adele und Anna sahen nun mit Kurzweil den Mutigen zu, die zu den Foxtrottmelodien das Tanzbein schwangen. Ein Kavalier hatte Anna aufgefordert, aber sie hatte abgelehnt. Adele klopfte mit dem Fuß den Takt.
„Ich habe immer so gern getanzt.“
„Ich vermeide es. Ich sehe lächerlich dabei aus.“
„Die Menschen tanzen so, wie sie auch lieben. Sehen Sie sich die beiden dort an. Sie sind toll. Die jungen Leute heutzutage beherrschen keine Paartänze mehr.
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