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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Freund Morgenstern, von dem ich Dir schon erzählt habe, und einem jungen „Logiker“ asiatischen Ursprungs (was sein Beruf ist, habe ich nicht richtig verstanden). Sie besuchen ihn nur sporadisch, aber sie rufen oft an. Dieser Herr Morgenstern hat Krebs. Er will es vor seinem Freund nicht zeigen, damit er sich keine Sorgen macht. Wie kann dieser Mann bei anderen so eine Treue bewirken? Adele sagt, dass Herr Gödel auf seinem Gebiet eine Kapazität war. Ich aber pflege nun einen bemitleidenswerten Alten, der kurz davor ist, senil zu werden. Und doch hat er letztes Jahr die National Medal of Science bekommen, eine sehr hohe Auszeichnung. In seinem Zustand bezweifle ich jedoch, dass er der Verleihung beiwohnen kann.
    Ich rede nur von meinen kleinen Alten! Ich lebe mit ihnen von Tag zu Tag, ihre Misere lastet schwer auf mir.
    Ich freue mich sehr über Deine Einladung, Jane, kann sie aber in nächster Zeit nicht annehmen. Ich kann die beiden nicht allein lassen. Ich lasse mich zu sehr auf sie ein? Natürlich! Auch Du hättest sie lieb gewonnen. Adele ist ziemlich schroff, manchmal sogar zänkisch, aber sie ist sehr mutig. Da Du Liebesgeschichten so schön findest – das hier ist eine echte! Aber im Märchen wird nicht erzählt, wie der Traumprinz endet: inkontinent und brabbelnd. Ich werde nicht das Glück haben, oder dieses wundervolle Pech, mit meiner Jugendliebe alt zu werden. Je nach Tagesform begrüße oder bedauere ich das.
    Sei mir nicht böse wegen dieses traurigen Briefs. Du hast ein mitfühlendes Ohr, meine Jane.
    Ganz die Deine,
    Beth
     
     
    Princeton, den 15. Juni 1976
     
    Liebe Jane,
    in Deinem letzten Brief hast Du Dich nach Einzelheiten des Gesundheitszustands „meiner kleinen Alten“ erkundigt. Meine arme Adele ist im Krankenhaus, sie hatte erneut eine Gefäßverengung. Es geht ihr ganz schlecht. Sie deliriert und muss intravenös ernährt werden. Ich bin auch erschöpft. Ich pendle zwischen Haus und Klinik, um Herrn Gödel zu seiner Frau und wieder zurück zu bringen. Es schmerzt mich, ihn so zu sehen. Wie ein verlorenes Kind. Ich kaufe für ihn ein, ich koche ihm kleine Mahlzeiten, aber er sagt, er will sein Essen lieber selber zubereiten. Ich glaube ihm nicht. Er ist völlig unberechenbar. An manchen Tagen erzählt er mir stundenlang von Adele, dann wieder verdächtigt er mich, ein Komplott zu unterstützen, das darauf abzielt, ihm seine Stelle zu kündigen. Er hat vergessen, dass er schon Pensionist ist. Adeles Schlaganfall hat vielleicht auch mit den Spannungen zu tun, die sie in den letzten Wochen aushalten musste. Ihr Mann ist aus der Klinik geflohen, wo ihm in einer Notoperation die Sonde wieder eingeführt werden musste. Er ist zu Fuß nach Hause gelaufen. Mir gegenüber hat er seine Frau beschuldigt, ihn töten zu wollen und während seiner Abwesenheit sein ganzes Geld veruntreut zu haben. Die Arme hat vor Verzweiflung geweint. Er konnte mitnichten dazu bewegt werden, Beruhigungsmittel zu nehmen, weder durch die Autorität des Arztes noch durch das Wohlwollen seines Freundes Morgenstern. Mehrere Tage verharrte er stur in einem Semidelirium. Er soll sogar seinen Bruder in Europa angerufen und ihn gebeten haben, sein Vormund zu werden. Am nächsten Tag habe er behauptet, er würde ihn hassen. Was diese Frau Gödel aushalten kann, ist grenzenlos. Mit Unmengen von Geduld hat sie es geschafft, ihn zu besänftigen. Alles schien wieder ins Lot zu kommen (wenn man in diesem Irrenhaus überhaupt auf eine Art Ordnung hoffen kann), doch dann ging es ihr erneut schlecht. Wir mussten sie schnellstens ins Krankenhaus bringen. Seitdem kümmert er sich mit liebevoller Fürsorge um sie. Auch Herr Morgenstern sieht gar nicht gut aus, er ist abgemagert und bietet seine letzten Kräfte auf, um sich nach diesem launischen Zombie zu erkundigen. Herr Gödel gehört in ein Heim. Adele lehnt es ab – noch immer hat sie Schuldgefühle, weil sie nicht in der Lage ist, für ihn zu sorgen.
    Ich bin am Ende meiner Kräfte, Jane. Schick mir Mut! Ich schwöre, dass ich in Zukunft nur noch Säuglinge pflegen werde. Erinnerst Du mich an dieses Versprechen?
    Beth
     
     
    Princeton, den 2. September 1977
     
    Meine liebe Jane,
    die neuesten Nachrichten sind nicht gut. Seit zwei Monaten ist Adele auf der Intensivstation. Nach ihrem Schlaganfall war sie ohnehin schon sehr beeinträchtigt, und ich weiß nicht, ob sie sich je wieder von ihrer Darmoperation erholen wird. Wenn sie überhaupt nach Hause kommt, dann sicherlich

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