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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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aus dem Schrank. Sie drehte das Radio lauter. Free As a Bird schwebte durchs Zimmer. Alle Sender brachten rund um die Uhr Beatles-Songs, nachdem John Lennon am Abend zuvor ermordet worden war.
    Vorsichtig trug Anna die beiden dampfenden Tassen zu Adeles Nachtkästchen, dann setzte sie sich in den blauen Sessel. Die alte Dame bot Anna ihr Plaid an, Anna wickelte es um sich herum.
    „Meine Großmutter wäre heute achtundachtzig geworden.“
    „Ich werde für sie beten.“
    „Sie ist schon lange tot.“
    „Ein Gebet ist nie sinnlos.“
    Anna verbrühte sich beim ersten Schluck den Mund. Auch für andere wäre der 8. Dezember nun ein Tag der Trauer. Im Radio wurde ständig das Drama vom Dakota Building wiedergekäut.
    „Ist Ihnen aufgefallen, Adele, dass man bei den Normalsterblichen den Geburtstag feiert, bei Prominenten aber den Todestag?“
    „Ich erinnere mich noch gut an das Attentat auf Kennedy 1963. Im ganzen Land war alles zum Stillstand gekommen. Es war das Ende einer Welt.“
    „Bedauern Sie es, dass Ihr Mann nicht solche Berühmtheit erlangt hat wie sein Freund Einstein?“
    „Kurt hätte einen solchen Druck nicht ausgehalten. Aber trotz seiner Klagen hat man ihn nicht immer ignoriert. Als er seinen Ehrendoktor in Harvard bekommen hat, schrieb eine Zeitung: Die bedeutendste Entdeckung der mathematischen Wahrheit im 20. Jahrhundert. Ich habe zwanzig Ausgaben gekauft!“
    „Ich habe im Time Magazine einen Artikel gelesen, in dem er als eine der wichtigsten Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts aufgeführt war.“
    „Auf dieser Liste stand auch Hitler. An den will ich nicht mehr denken.“
    „Auch Hitler hat Geschichte geschrieben. Auf seine Weise.“
    „Ich glaube nicht an den Teufel, nur an kollektive Feigheit. Zusammen mit der Mittelmäßigkeit ist sie die am weitesten verbreitete menschliche Eigenschaft. Und ich schließe mich mit ein, da können Sie sicher sein!“
    „Sie sind bei Weitem nicht mittelmäßig, Adele. Und ich finde Sie sehr mutig. Über Ihr Haar kann ich nichts sagen, um Ihnen zu schmeicheln, ich habe es nie gesehen.“
    Die alte Dame lächelte über ihre gute Schülerin. Erfreut hatte Anna bemerkt, dass der Turban frisch gereinigt wieder aufgetaucht war. Sie zog die Decke hoch zum Kinn, ihr wollte einfach nicht warm werden. Als sie aus dem Hallenbad gekommen war, hatte sie sich erkältet. Adele hatte ihr einmal anvertraut, dass sie nie schwimmen gelernt hatte. Anna wollte sie nicht mit einem „Das können Sie noch nachholen“ trösten, das man älteren Menschen gegenüber oft einräumt. Dazu war keine Zeit mehr. Anna wusste noch immer nicht, wie sie ihr die Nachricht beibringen sollte. Sie dachte an Leo. Sie würde es wiedergutmachen, indem sie Adele die Diskussion in der Küche schilderte.
    „Haben Sie Alan Turing kennengelernt?“
    „Ich erinnere mich an ein Gespräch über seinen Tod. Kurt fragte, ob Turing verheiratet gewesen sei. Es erschien ihm höchst unwahrscheinlich, dass ein verheirateter Mann sich umbrachte. Suchen Sie darin keine Logik. Jedenfalls waren alle sehr peinlich berührt. Turings Homosexualität war bekannt, aber mein Mann hörte nicht auf Gerede. Ich hingegen liebe Klatschgeschichten! Aber Sie füttern mich ja kaum damit, Mädchen. Mit wem feiern Sie Weihnachten?“
    „Ich muss meine Mutter in Berkeley besuchen.“
    Adele verbarg ihre Enttäuschung nicht. Hatte sie sich vorgestellt, Anna würde die Feiertage mit ihr verbringen? Anna überdachte diese Idee und deren Eventualitäten. Es wäre eine gute Entschuldigung, die sie der Bestie Rachel vorsetzen könnte: berufliche Verpflichtungen.
    „Und ganz zufällig sind Sie jetzt krank?“
    „Psychologisieren Sie nicht zu viel, Adele. Der Körper schafft nicht alles.“
    „Erzählen Sie das anderen! Ich habe mein Leben mit einem Doktor in Sachen Somatisierung verbracht. Und ich selbst war gegen Jahresende auch nie so recht auf dem Damm. Mein Gott, wem gefällt schon Weihnachten?“
    Anna zog ihr Haarband ab, massierte sich kräftig die Kopfhaut und band dann wieder ihren Knoten. Dabei zog sie die Haare bis zur Schmerzgrenze nach hinten.
    „Ich werde Sie nicht mehr so oft besuchen können. Mein Chef hat mir gestern mitgeteilt, dass meine Aufgabe beendet ist.“
    Adele nippte gemächlich an ihrem Tee. Anna konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Die Neuigkeit schien sie weder betroffen zu machen noch zu überraschen.
    „Interessiert ihn der Nachlass nicht mehr?“
    „Er will mich rauswerfen.“
    „Da

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