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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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schützen zu können glaubte. Und dann schreien die anderen: „Warum haben Sie nichts getan?“
     
    Ich sah eine Weile zu, wie er im Schlaf zuckte. Er hatte sich um seinen Schmerz zusammengekauert, die Fäuste drückten auf seinen Bauch. Ich zog das Laken hoch, das von seinem nicht existenten Leib gerutscht war. Schon jahrelang hatte ich ihn nicht mehr nackt gesehen. Ich sah diesen Körper an, der mir einmal so vertraut gewesen war, diese dürren Beine und diesen nutzlosen Penis. Von dem Körper, den ich geliebt, gestreichelt, gepflegt hatte, war nur noch das Gerippe geblieben. Ich konnte die Form seines Schädels erkennen. Ich sah nicht mehr den Mann, sondern sein Skelett, ich betrachtete bereits sein Andenken.
    Ich hatte keinen Funken Mut mehr in mir. Ich wohnte im Körper eines fetten, total vertrockneten Weibes. Mein Inneres schrie mir zu, ich solle den Kampf aufgeben. Ich war so dick, er war so durchsichtig, als hätte ich sein ganzes Fleisch verschlungen. Dennoch hatte er mich verbraucht, er hatte mich leer gesaugt wie eine zusätzliche Batterie. Diese letzten Jahre kamen mir endlos vor. Ich hatte keine Kinder bekommen, ich würde kein Werk hinterlassen. Ich war nichts. Ich war nur noch Leiden. Ich konnte mir nicht einmal erlauben, meine Schwäche zu zeigen, ohne mit ansehen zu müssen, dass Kurt noch ein wenig deprimierter wurde. Als ich in der Klinik gewesen war, hatte er nichts gegessen. Wenn ich schwächelte, schwächelte auch er. Wozu sollten wir so weitermachen? Er verließ das Haus nicht mehr, traf Verabredungen in seinem Büro, ging aber nicht hin. Mit Fremden kommunizierte er nur noch über einen „sicheren“ Dritten. Über die neuesten Schrullen des zurückgezogen lebenden Genies wunderte sich keiner mehr. Nur die Besuche von Oskar und dessen Sohn Karl machten ihm keine Angst. Der junge Morgenstern wollte auch Mathematiker werden. Kurt diskutierte gern mit ihm. Worin war er ein Vorbild für den Jungen? Wer würde sich wünschen, so zu enden wie er? Er war 1966 nicht einmal nach Wien zur Beerdigung seiner eigenen Mutter gereist, ich hatte stattdessen hinfahren müssen. Was für eine traurige Ironie! „Wieso hätte ich eine Stunde im Regen bei einem offenen Grab stehen sollen?“, war seine einzige Rechtfertigung gewesen.
    Wenn ich vor ihm starb – würde er zu meinem Begräbnis kommen? Oskar hätte ihm das Zyankali bringen sollen. Ein vergifteter Apfel für uns beide wäre die ideale Lösung gewesen – 220 plus 284, dann hätte sich der Kreis geschlossen. Und ich hätte sicher sein können, dass er bei meinem Begräbnis anwesend ist.
    Ich musste mich an der Wand festhalten, als ich ins Wohnzimmer zurückging. Ich sank in meinen Sessel. Um wieder aufzustehen, würde ich um Hilfe bitten müssen. Die drei Männer starrten mich wortlos an. Auch mich hätten sie zu gern in die Anstalt gesteckt. Ich musste die Waffen strecken. Ich war leer – fett und leer.
    „Tun Sie, was getan werden muss.“
    „Sie treffen eine gute Wahl. Er braucht psychiatrische Behandlung.“
    „Wir werden eine Haushaltshilfe für Sie besorgen, Adele. Sie schaffen das nicht mehr allein.“

51.
    „Sie kommen reichlich spät, meine Hübsche. Haben Sie andere Hobbys gefunden?“
    Anna warf ihre Tasche auf den Kunstledersessel. Nach ihrem Arbeitstag hatte sie die Fahrt nur ungern auf sich genommen. Sie müsste die schwere Pflicht schnellstmöglich hinter sich bringen – Adele den Befehl von Institutsleiter Adams überbringen. Jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, wäre sie am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen. Sie hätte ihm seine Dreigroschenwahrheiten ins Gesicht spucken sollen und niemals diese Zigarette rauchen dürfen! Seither musste sie sich höllisch beherrschen, keine Schachtel zu kaufen. Sie verfluchte den Kleiderbügel, den sie verschluckt hatte. Die Nacht mit dem Franzosen hatte sie nicht entspannen können. Dennoch hätte er auch dafür eine Fields-Medaille verdient. Er war früh zur Arbeit gegangen, nachdem sich seine Inspiration regeneriert hatte, hatte jedoch eine Fortsetzung der Beweisführung ihrer perfekten Kompatibilität vorgeschlagen. Anna hatte allein gefrühstückt und über das Wandbild von John von Neumann nachgegrübelt, das über dem Büffet hinter Glas hing – und über ihr Schicksal als Matrosenbraut.
    Adele riet ihr, sich eine Tasse Kamillentee aufzubrühen, weiter kommentierte sie Annas noch nie da gewesene Laune nicht. Anna schaltete den Wasserkocher ein und holte die Kräuterteedose

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