Die Göttin der kleinen Siege
nicht vor Weihnachten. Nur die Angst, ihren Mann zurückzulassen, hält sie noch am Leben. Was ich zu Anfang des Sommers befürchtet hatte, ist tatsächlich eingetreten, aber dazu muss man auch kein Hellseher sein: Herr Gödel hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und lehnt jede Hilfe ab. Ohne die Anwesenheit seiner Frau hat er offenbar aufgehört, überhaupt etwas zu sich zu nehmen. Ich stelle ihm Teller hin und finde sie am nächsten Tag unangetastet vor. Gestern habe ich auf der Fußmatte ein Hähnchen voller Fliegen gefunden. Demnach bringt ihm auch jemand anderer vergebens Essen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich die Wahrheit vor Adele vertuschen soll. Sie wirft sich vor, ihn allein gelassen zu haben. „Was wird er ohne mich machen? Elizabeth, Sie bringen ihm doch jeden Tag etwas zu essen?“
Herr Gödel öffnet niemandem mehr die Tür. Er lehnt meine Hilfe ab. Wenn ich es schaffe, ihn telefonisch zu erreichen, beschuldigt er mich zu verhindern, dass seine Kollegen ihn besuchen kommen. Er will seinen Freund Oskar sehen. Aber Herr Morgenstern ist vor zwei Monaten gestorben. Herr Gödel will das nicht einsehen.
Ich fürchte, das Ende ist nah. Für alle beide. Ohne sie wird er sterben wollen. Und sie wird ihn nicht überleben.
Grüße die Palmen von mir! Vielleicht findest Du diesen Humor unangebracht, aber glaub mir, ich schöpfe aus meinen letzten Reserven, um nicht zusammen mit den beiden einzugehen.
Deine ergebene und erschöpfte Freundin
Beth
Princeton, den 21. Januar 1978
Liebe Jane,
diese Nachricht wird Dich nicht überraschen. Herr Gödel ist am 14. Januar verstorben. Adele steht unter Schock. Sie hat es noch immer nicht realisiert. Sie hatte sich so gefreut, dass sie ihn doch noch hatte überreden können, ins Krankenhaus zu gehen. Trotz ihrer Rückkehr und ihrer Pflege war es zu spät. Er ist während ihrer Abwesenheit verhungert. Bei seinem Tod hat er noch dreißig Kilo gewogen! Wie kann ein so intelligenter Mann an diesen Punkt gelangen? Ich verstehe das nicht. Er ist am Nachmittag entschlafen, zusammengekauert wie ein Fötus auf dem Sessel in seinem Krankenzimmer.
Seit dem Begräbnis bin ich die ganze Zeit bei Adele, um ihr zu helfen. Sie wankt zwischen Erleichterung und Schuldgefühlen. Ich habe sie sogar dabei ertappt, wie sie mit ihrem Mann gesprochen hat. Sie wird ein bisschen wirr im Kopf. Aber irgendwie ist das gut so. Von nun an muss sie ohne ihn weiterleben, wenn man das überhaupt „leben“ nennen kann.
Wir werden uns bald um einen Platz in einem Heim kümmern. Sie murrt zwar nach außen hin, aber sie weiß, dass es die beste Lösung ist. Sie hat große Angst davor, allein zu sein. Ihre Witwenrente ist nicht sehr hoch, aber mit dem Verkauf des Hauses müsste sie die Kosten für ein nicht allzu düsteres Hospiz decken können.
Meine Arbeit hier geht zu Ende. Fünf lange, schreckliche Jahre. Die Ärzte haben gesagt, dass Herr Gödels Anorexie die Folge einer Persönlichkeitsstörung gewesen sei. Welch eine Überraschung! Er hätte schon vor Ewigkeiten zwangseingewiesen werden sollen. Wäre er keine „Koryphäe“ gewesen, wäre er der Anstalt nicht entkommen. Adele hatte es so gewollt, sie hat bis zum Schluss dafür bezahlt. Meine letzte Aufgabe wird es sein, den Nachlass zu ordnen. Ich habe mir den Keller angesehen – das wird kein Sonntagsspaziergang. Herr Gödel hat Tonnen von Papier angehäuft.
Bald komme ich Dich besuchen, Jane. Ich muss unbedingt wieder lachen, die Sonne genießen und diese ganze Geschichte vergessen. Nun siehst Du, was geschieht, wenn man Zuneigung zu seinen Patienten fasst!
Deine immer tüchtige
Beth
53.
„Ist das Personal von Ihren kleinen Treffen unterrichtet?“
„Abteilung Lustbarkeit. Stören Sie nie einen alten Menschen, der mit Toten, Katzen oder Dokumentaristinnen spricht!“
Widerwillig schob Anna Adele im Rollstuhl zu ihrem „heimlichen“ Treffen. Sie hatte ihre Mutter angelogen und eine Grippe vorgeschoben, damit sie nicht nach Kalifornien reisen musste, und fand sich am Ende am Weihnachtsabend zu Kindereien gezwungen. Laut Adele gab es in Wien noch Positivisten, die parapsychologische Séancen durchführten, aber sie konnte nicht zugeben, dass sich der größte Logiker des 20. Jahrhunderts auf diese völlig irrationalen Geschichten eingelassen hatte, nur um Scharlatane zu entlarven.
„Sie riskieren nichts. Schlimmstenfalls rufen wir die falsche Person herbei.“
„Bestenfalls machen wir uns lächerlich.“
Die alte
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