Die Göttin der kleinen Siege
hat er vollkommen recht! Dieser Job tut Ihnen nicht gut. Betrachten Sie diese Gelegenheit als den Anfang eines neuen Lebensabschnitts.“
Bei der plötzlichen Erkenntnis, dass ihre Zeit gezählt war, verkrampfte sich Annas Bauch. Der Countdown bis zu den Feiertagen war nicht der einzige Grund – der andere war in der Schwebe, aber die junge Frau hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihrer Freundin das zu sagen. Sie fasste den Beschluss, der sich ihr seit einigen Tagen aufdrängte, ohne dass sie es hatte zugeben wollen.
„Und wenn ich Weihnachten mit Ihnen feiere?“
„Wollen Sie sich aus freien Stücken einen Abend mit Scheintoten antun?“
„Sie bewahren mich vor Unkosten.“
Anna machte ein versteinertes Gesicht, um die überschäumenden Emotionen auszumerzen, die sich dort um den Platz stritten. Sie hatte es satt, ständig Ausflüchte suchen zu müssen.
„Lassen Sie das sofort sein! Das macht vorzeitige Falten. Warum quälen Sie sich so?“
„Ich bin nicht so mutig wie Sie, Adele. Ich laufe mein Leben lang davon. Ich bin erbärmlich.“
Adele streichelte ihr die Hand. Diese zärtliche, intime Geste brachte ihre Besucherin an den Rand der Tränen.
„Sie werden doch jetzt nicht weinen! Was macht Sie denn so unglücklich?“
„Es wäre mir zu peinlich, zu lamentieren, vor allem vor Ihnen.“
„Das Leid ist kein Wettstreit. Trauer kann eine Erleichterung sein. Manchmal ist die Erinnerung an einen Toten angenehmer, als es seine Anwesenheit wäre.“
Anna zog sanft ihre Hand weg. Adele verwies auf ihre eigene Erfahrung. Kurz hätte Anna sich ihr anvertrauen können, aber ihre Welten waren undurchlässig, sie waren unvermeidlich und definitiv anders. Wie sollte sie Adele erklären, dass sie sich eben gerade geweigert hatte, das gleiche Schicksal zu erleiden wie die alte Frau? Für Frau Gödel, die damit nur das Rollenmuster ihrer Zeit übernommen hatte, bedeutete es ein unausweichliches Opfer, einen Typ Mann wie Kurt oder Leo zu heiraten, auch wenn es mitunter Vorteile mit sich brachte wie zum Beispiel Sex. Diese Monster nahmen alles und gaben wenig. Adele hatte dabei ihre natürliche Fröhlichkeit verloren und alle Hoffnung, ihre Unvollständigkeit durch die Mutterschaft aufzuheben. Anna verstand diese Sehnsucht, aber sie sah darin keine Notwendigkeit. Ihre Mutter Rachel hatte die Wahl getroffen, sich nicht aufzulösen, weder in ihrer Ehe noch für ihr Kind. Anna bewunderte ihren Freiheitsdrang, nicht aber die Kompromisslosigkeit, die damit einherging. Am Ende hatten beide Frauen ihre Wahl mit derselben Einsamkeit bezahlt – auch diese Aussage war unentscheidbar.
„Sie sollten wieder verreisen, Anna. Nutzen Sie Ihre Freiheit. Sie haben noch so viele Chancen vor sich.“
Ein akuter Schmerz an der Seite ließ die alte Dame schwer in das Polster sinken. Anna wollte den Alarmknopf drücken, aber Adele stieß keuchend ihre Hand weg.
Anna tränkte eine Kompresse mit Eau de Cologne und beschwichtigte ihre Freundin, so gut es ging. Seit ihrem Ausflug war Adeles Gesicht eingefallen. Warum war ihr das denn nicht aufgefallen? Durch Annas Schuld hatte Adele ihre letzten Reserven aufgebraucht. Sie hatte dem Kinobesuch sogar ihre letzte Freude geopfert, den Tratsch. Der Große Manitu zählte die Punkte. Anna dachte an den kräftezehrenden Rückweg. Sie überlegte, ob Jean wohl Dienst hatte – beim Gehen würde sie bei ihr eine Zigarette schnorren. Sie schämte sich, weil sie schon an Aufbruch dachte. Sie fühlte sich schmutzig, besudelt von ihren ewigen Feigheiten. Adele Gödel würde bald sterben, und Anna schuldete ihr zumindest dieses bisschen Mut: Aufrichtigkeit.
„Ich freue mich so, dass ich Sie kennenlernen durfte, Adele. Bis jetzt hatte ich immer das Gefühl, dass niemand mich braucht.“
Mühsam richtete die alte Dame sich wieder auf. Anna dachte kurz, sie hätte auch noch den letzten Rest Nachsicht bei Adele erschöpft, aber Adele überraschte sie mit ihrer sanften Stimme, die ohne jeden Sarkasmus war.
„Ich hätte mir Vorwürfe gemacht, wenn ich diese Welt verlassen würde und Ihnen diesen Eindruck vermittelt hätte, Anna. Ich bin lediglich eine winzige Krümmung in Ihrer Bahn. Sie haben noch viel Zeit, um eine Aufgabe zu finden.“
52.
1973–1978
Eine so alte Liebe
„Die Unklugheit, ja der Unsinn
mancher Menschen ist so groß,
dass sie sich durch Furcht vor dem Tod
zum Tod zwingen lassen.“
Epikur, zit. nach Seneca
Princeton, den 15. November 1973
Liebe Jane,
ich
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