Die Göttin der kleinen Siege
Und dann wundert man sich über die Scheidungsrate!“
Ein Paar um die siebzig drehte sich vor ihrem Tisch. Verschwörerisch wiegten sie sich in höchster, zeitloser Eleganz. Anna dachte an die vielen Feste, bei denen sie vom Sofa aus den anderen Jugendlichen auf der Tanzfläche zugesehen hatte. Leo, die Haare in der Stirn, mit zerknitterter Hose und zerknittertem T-Shirt, hatte immer getanzt, als würde es um sein Leben gehen. Er mochte wilde Musik, unkoordiniert hatte er mit seinen Gliedmaßen geschlenkert. Ohne aufzuhören zu zucken, hatte er Joints gedreht, mit denen er vergessen konnte, dass er ins Internat zurück musste. Er hatte nie jemanden zum Tanzen gebraucht. Anna hingegen hatte immer das nächste Lied abgewartet – das ihr vielleicht Lust machen würde, sich auch ins Getümmel zu stürzen. Schließlich war sie gegangen. Sie wartete noch immer.
„Jedem Fest wohnt so etwas wie Traurigkeit inne.“
„Sie bleiben lieber außenstehende Beobachterin. Sie halten Sarkasmus für Verstandesschärfe. Doch in Wirklichkeit haben Sie nur Schiss, meine Schöne.“
Die Musik verklang, als die Bediensteten die Tische abgeräumt hatten. Sie hatten versucht, ihre Kleidung mit roten Filzkappen und glitzernden Luftschlangen aufzuheitern, die sie am Hals kratzten. Auf einmal kam Bewegung in die Tischgesellschaften. Berge von Paketen tauchten aus dem Nichts auf. Vergnügtes Gebissklappern folgte auf die Freudenrufe und das Rascheln zerrissenen Papiers. Adele reichte Anna eine Tasche aus Packpapier, die mit einem weißen Seidenband geschlossen war. Anna packte eine Strickjacke aus wundervoller mohnroter Wolle aus. Fasziniert zog sie sie auf der Stelle an.
„Gefällt sie Ihnen? Ich habe sie selbst gestrickt.“
„So etwas Schönes habe ich noch nie bekommen. Da haben Sie sich ja große Mühe gegeben!“
„Bei Ihrem Haar und Ihrem Teint sollten Sie öfter Rot tragen.“
Anna dachte an das Kleid, das sie zu Thanksgiving gekauft hatte – komisch, wie ein einfaches Stück Stoff ein Schicksal wenden kann. Sie hatte den Franzosen ohne sinnlose Versprechungen abreisen lassen und ihr rotes Kleid zusammen mit ihrem übrigen Leid in den Schrank gehängt.
Sie konnte es gar nicht erwarten, Adele ihr Geschenk zu übergeben. In den vergangenen Wochen hatte sie ausführlich darüber nachgedacht und nachdem sie einen ganzen Nachmittag lang durch die geschäftigen Straßen New Yorks geirrt war, war sie zu Macy’s gegangen und dort am Ende eines Gangs staunend vor einem prächtigen Morgenmantel stehen geblieben. Das Etikett, das den astronomischen Preis angab, hatte sie lieber ignoriert – der Umschlag ihres Vaters würde damit seine Daseinsberechtigung finden. Frohlockend war sie mit diesem Wunder aus bronzefarbenem, kaschmirgefüttertem Brokat zurückgekehrt. Sie konnte sich Adele als triumphierende Kaiserin sehr gut in diesem Galastaat vorstellen. Adele seufzte, als sie das Kleidungsstück auseinanderfaltete.
„Das ist ja wundervoll! Sie sind nicht gescheit – das muss Sie ein Vermögen gekostet haben!“
„Zwei, um genau zu sein. Aber Sie werden in diesem Hausmantel toll aussehen.“
„Hausmantel? Was werden sie denn noch alles erfinden? Ich bin ganz durcheinander. Das ist einfach zu viel!“
„Sie werden doch jetzt nicht weinen?“
Sie lächelten sich an. Gladys kam an und verdarb den Moment. Sie hatte für jeden ein Geschenk. Anna war verlegen, sie hatte nur eine Schachtel Pralinen mitgebracht. Sie gab sich begeistert und packte ihr Geschenk aus, das in wundervolles rosa Papier eingeschlagen war. Es war ein Gefäß mit säuerlich riechendem Inhalt. Sie umarmte Gladys, wagte aber nicht zu fragen, ob es Konfitüre war oder eine Haarspülung. Die alte Dame verströmte denselben Geruch. Mit wedelnden Quasten an ihrem Pullover machte sich Gladys an die weitere Verteilung der Geschenke. Adele schüttelte ihr Päckchen – ein Set bestickter Taschentücher in unmöglichen Farben.
„Sie sind ein Glückskind.“
„Vor allem bin ich Elvis Aaron Presley entkommen. Sicherlich hat er heute Abend ein Konzert gegeben … dort oben. Und wer war dieser Asakter? Ich habe kein Wort von seiner Botschaft verstanden.“
„Eine verirrte Seele. Sobald sie ein Loch finden, durch das sie schlüpfen können, ergreifen sie die Gelegenheit und verderben uns die Séancen.“
„Was für ein Mangel an Savoir-mourir!“
„In der Ewigkeit wimmelt es nur so von Nervensägen. Es ist eine einfache Frage der Konzentration. Das ist
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