Die Göttin der kleinen Siege
Tortenschachtel! Also, wo stehen Sie? Können Sie sich aus dem Netz dieses berühmten Calvin Adams befreien?“
„Ich verheimliche Ihnen seine Sorge nicht.“
„Wegen meiner Gesundheit ist er sicherlich nicht in Sorge. Ich bin seine schwarze Wolke am Horizont, sein kleiner Stachel im Fleisch.“
„Aber eine globale Priorität sind Sie nun auch wieder nicht.“
„Und ob ich das weiß! Und Sie? Warum hängen Sie sich so an mich? Ist Ihre Stelle so gefährdet?“
„Mir gefallen die Gespräche mit Ihnen.“
„So wie mir Ihre Geschenke. Wollen Sie kosten?“
Anna lehnte ab. Ihre Opferbereitschaft ging nicht so weit, auch noch den Löffel mit der alten Dame zu teilen.
„Wie ist er denn, der Direktor?“
„Er trägt Rollkragenpullover unter seinen Hemden.“
„Ich erinnere mich an ihn. Er wird ja schon seit einiger Zeit am Institut gefördert. Es heißt, die Sekretärinnen würden ihre Blusen hoch schließen, bevor sie sein Büro betreten.“
Mit dem Löffel in der Hand und mit schokoladenverschmiertem Kinn beobachtete Adele ihre Besucherin. Anna überspielte ihre Nervosität, indem sie in ihrer Reisetasche kramte. Der Inhalt war beeindruckend: ein Federmäppchen, ein Etui mit Medikamenten, zwei zu bearbeitende Akten, ein Buch für die Wartezeit – Das Aleph von Borges –, Reisenähzeug, ein dicker Timer und ein Schlüsselbund an einer langen Schnur. Sie war mit einer so schweren Tasche unterwegs, dass sie ständig Rückenschmerzen hatte. Abends dachte sie daran, aber am Morgen nahm sie doch wieder ihren ganzen Krempel mit. Schließlich fand sie ein Taschentuch und legte es neben die Konditoreischachtel flach aufs Bett. Adele ignorierte es.
„Mit so einer Tasche könnten Sie einer Belagerung standhalten. Schon schlimm, wenn man nicht alles im Griff hat, was, junge Frau?“
„Beschäftigen Sie sich in Ihren Mußestunden mit Psychologie?“
„Kennen Sie den jüdischen Witz: ‚Was ist ein Psychiater?‘“
Anna versteifte sich. Als Katholikin im Österreich der Dreißigerjahre hatte Adele eine einfache Lösung für diese Art von Gleichung ohne Unbekannte.
„Ein Psychiater ist ein Jude, der gern Arzt geworden wäre, um seiner Mutter eine Freude zu machen, der aber beim Anblick von Blut ohnmächtig wird.“
„Haben Sie ein Problem mit Juden? Sie stellen mich nicht zum ersten Mal diesbezüglich auf die Probe.“
„Sie sind viel zu leicht zu durchschauen! Albert Einstein hat mir diesen Witz erzählt.“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
„Entschuldigen Sie. Ich kann Ihr Misstrauen verstehen.“
Auf der Suche nach einem Haargummi tauchte Anna wieder in ihre Tasche. Ohne die Spannung eines straffen Pferdeschwanzes auf der Kopfhaut konnte sie nicht denken. Adele sah sie liebevoll an.
„Sie sollten Ihr Haar öfter offen tragen.“
„Psychologin und Kosmetikerin!“
„Das ist weitgehend dasselbe. Sie haben einen wundervollen Teint. Nicht einen einzigen Leberfleck. Sie sind makellos wie eine Madonna. Sie haben eine lange Nase und einen zu sanften Blick. Das könnten Sie mit einem kräftigen, roten Lippenstift ändern.“
„Ist die Inspektion vorüber?“
„Warum sind Sie so gar nicht kokett? Sie sind doch sehr hübsch.“
„In meiner Familie gibt man nichts auf Eitelkeiten.“
„Ich bin sicher, dass Sie davon geträumt haben, Cheerleader zu sein und Ihre Mutter davon fast einen Herzschlag bekommen hat. Leute, die sich für tiefsinnig halten, sind oft sehr unglücklich.“
„Es hat mir noch nie gefallen, mich anzumalen.“
In diesem Punkt log Anna nicht. Sie hatte schon sehr früh entschieden, dass der Konkurrenzkampf unter Frauen nicht ihr Ding wäre. Dennoch hatte es ihr nie an Antrieb gemangelt. Ihre Mutter geizte mit Liebkosungen, überhäufte sie aber mit Ratschlägen. Kaum konnte ihr farbloses kleines Mädchen laufen, hatte Rachel es sich zur Aufgabe gemacht, Annas Weiblichkeit überschwänglich mit rosa Tapeten, Puppen und Rüschenkleidchen zu wecken. Damals war Rachel noch keine Feministin und die Verführungskunst für sie eine natürliche Waffe gewesen. Zeitweilig hatte sie gern das Mutter-Tochter-Verhältnis theoretisiert, sie hatte sich bemüht, die Entfaltung ihrer Tochter nicht zu behindern, indem sie das Bild einer zu perfekten Frau abgab, also hatte sie sich sonntags nicht geschminkt. Doch ihre Rücksicht war nicht so weit gegangen, auch an Wochentagen auf ihre Schminke zu verzichten. Im Seminar und bei Kongressen hatte sie grauen Kajal aufgetragen, bei
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