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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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morgen um dieselbe Zeit wieder, ich bringe Sie hinein. Seine Mutter wird nicht hier sein, sie ist den Krankenschwestern so auf den Wecker gefallen, dass sie zwei Tage Besuchsverbot hat. Das ist heilsam.“
    „Tausend Dank. Wie heißen Sie? Ich bin Adele!“
    „Ich weiß, meine Liebe. Diesen Namen flüstert er immer vor sich hin, wenn er schläft. Ich bin Anna.“

11.
    „Eine kleine Runde durch den Park?“
    „Es ist kalt. Ich bin müde.“
    „Aber man könnte meinen, es ist Frühling! Ich packe Sie gut ein, dann gehen wir raus.“
    Anna deckte die alte Dame sorgfältig zu. Sie löste die Bremse des Rollstuhls und schob ihn durch die Tür, ohne anzuecken. Trotz des virtuosen Manövers klammerte Adele sich an die Armlehnen.
    „Ich ertrage es nicht mehr, in diesem verdammten Stuhl herumkutschiert zu werden. Ich komme mir vor wie tot.“
    „Sie sind viel zu kratzbürstig. Der Tod hat bestimmt Angst, Ihnen zu nahe zu kommen.“
    „Diesen Kerl erwarte ich standhaft! Wenn meine Beine noch mitspielen würden … Ich hatte schöne Beine, wissen Sie?“
    „Sie haben getanzt wie eine Königin, davon bin ich überzeugt.“
    Adele lockerte ihren Griff und schob ihre Hände unter die Decke. „Gehen Sie ein bisschen schneller. Ich bin ja nicht aus Zucker.“ Die beiden gingen zügig durch den Flur und wären fast mit einem verstörten Mann zusammengestoßen, der dort stand.
    „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Anna. Roger hört Sie sowieso nicht. Er hat die letzten Jahre damit zugebracht, seinen Koffer zu suchen. Wenn er ihn vor dem großen Abmarsch noch findet, braucht er ihn gar nicht mehr.“
    „Der Arme.“
    „Und was ist mit mir? Ich sitze hier mit irgendwelchen Sabbermäulern fest, die ein Gedächtnis haben wie ein Goldfisch! Kein Mensch will so enden.“
    „Dann sollte man also jung sterben?“
    „Vor denjenigen zu gehen, die man liebt, ist die einzige Möglichkeit, nicht leiden zu müssen.“
    „Für jene, die zurückbleiben, ist es schlimm, Adele.“
    „Mein letzter Luxus ist es, schlimme Sachen zu sagen. Wer dies zu schätzen weiß, hält es für Weisheit, die anderen finden, es ist Altersschwachsinn.“
    „Oder Zynismus.“
    „Als ich meinen ersten Schlaganfall hatte, habe ich mir gesagt: Jetzt ist es vorbei. Und das ist doch gar nicht so schlimm. Aber dann habe ich an Kurt gedacht und mich gefragt, was ohne mich aus ihm werden soll. Also bin ich zurückgekommen. Und hatte nur noch Schmerzen. Ich habe es sofort bereut.“
    „Ein kleiner Blick ins Grüne wird Ihre düsteren Gedanken vertreiben.“
    „Lassen Sie mich bloß mit Ihrer billigen Poesie zufrieden! Vorsicht – rechtsum! Von links greift ein rosa Pullover an.“
    Die kleine Gladys eilte auf die beiden zu.
    „Miss Roth, wie geht es Ihnen! Und unserer kleinen Adele?“
    Adele Gödel dürfte das Doppelte von Gladys gewogen haben und war fünf, sechs Jahre älter. Sie rollte mit den Augen.
    „Schnell weg!“, sagte Adele auf Deutsch.
    „Was sagt sie?“, fragte Gladys.
    „Sie muss aufs Klo.“
    Sie stürmten zum Aufzug. Die Türen öffneten sich vor einem Schwarm Weißkittel und ließen eine dicke Wolke Zigarettenrauch und Desinfektionsmittel heraus. Anna zögerte, sie wusste nicht, welches Stockwerk sie wählen sollte, die Ziffern waren verblasst. Adele drückte mit herrischem Daumen den richtigen Knopf.
    „Kreaturen wie diese Gladys sind Blutsauger, Anna. Wenn man nicht lernt, diese Monster abblitzen zu lassen, überlebt man in dieser Welt nicht.“
    „Bei Ihnen bin ich in einer guten Schule.“
     
    Sie gingen um den Rasen herum und versteckten sich hinter einem majestätischen Maulbeer-Feigenbaum. Den wenigen Insassen und den noch selteneren Besuchern schenkten sie keine Beachtung. Aus ihrer bodenlosen Tasche zog Anna eine Thermoskanne, eine Packung Zimtkekse und einen Flachmann.
    „Halleluja! Sie sind ja fast eine Mary Poppins! Ist es nach Ihren Prinzipien nicht noch ein bisschen früh für einen Aperitif?“
    „In Wien ist jetzt Nacht.“
    Anna füllte zwei Tassen mit Tee und goss Bourbon hinein. Adele drehte das Gebräu in der Hand und schimpfte auf die zu vernünftige Portion Whiskey. Sie stießen mit ihren Plastiktassen an. „Schauen Sie mir in die Augen, Fräulein, sonst ist Anstoßen sinnlos. Auf Wien! Eines Tages werden Sie meine Heimat von mir grüßen.“ Das goldene Licht fiel auf den Staub, der in der Luft tanzte. Anna hatte flüchtig das Gefühl, ganz ausnahmsweise mal zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

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