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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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gesellschaftlichen Anlässen hatte sie perlmuttern glänzende Lider und beige bemalte Lippen gehabt. Für ihre nächtlichen, namenlosen Treffen hatte sie ihre außergewöhnlichen lilafarbenen Augen dick schwarz umrandet. Das kleine Mädchen hatte am Fenster seines Zimmers auf ihre Rückkehr gewartet. Am nächsten Morgen war das Kopfpolster der Mutter voller schwarzer Flecken und jenes des Vaters manchmal unberührt gewesen. In dem Alter, als die Schulfreundinnen sich auf Wimperntusche gestürzt hatten, hatte Anna ihre Bluse bis zum Hals geschlossen getragen und sich in Bücher vertieft.
    Ihr war schnell klar geworden, dass sie Koketterie nicht brauchte. Sie kannte im Gegenteil nur wenige Jungen, die dem Drang widerstehen konnten, ihre Kälte zu durchbrechen. Doch ob sie auf der Höhe von Annas Erwartungen waren, war ein anderes Thema.
    „Man darf die Lust nicht verachten, meine Schöne. Sie wird uns zusammen mit dem Leben geschenkt.“
    Anna wischte der alten Dame den Mund ab.
    „Der Schmerz auch.“
    „Dann essen Sie ein Stückchen Sachertorte. Unterzuckerung ist die Mutter der Melancholie.“

10.
1931
Der Zusammenbruch
    „Wären wir nicht von Natur aus ein bisschen eitel,
wären wir sehr unglücklich – nur aus Eitelkeit hängen sich
die meisten Menschen nicht auf.“
Voltaire, Brief an die Marquise du Deffand, 12. 9. 1760
     
     
    Ich war verrückt vor Sorge. Seit sechs Tagen gab es keine Nachricht von Kurt. Seine wenigen Freunde, mit denen ich noch in Kontakt hätte treten können, waren bereits ausgewandert: Herbert Feigl in die USA, Marcel Natkin nach Paris. An der Universität hatte man mich gemustert und mir dann mit spitzen Lippen verkündet, dass Kurt vorläufig beurlaubt sei. Als letzten Ausweg beschloss ich, an der verbotenen Tür in der Josefstädterstraße zu klopfen. Ich hatte unsere Vereinbarung wegen nichts und wieder nichts gebrochen, denn seine Familie war nicht zu Hause. Die Verwalterin ließ sich nicht herab, ihr Fensterchen zu öffnen. Ich musste einen Schilling hindurchschieben, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und dann erzählte sie mir alles – das Kommen und Gehen mitten in der Nacht, die betretenen Herren, die Mutter mit rot verweinten Augen, der Bruder noch steifer als sonst.
    „Sie haben ihn nach Purkersdorf ins Sanatorium gebracht – dahin stecken sie die hohen Herrschaften, die nicht ganz richtig im Kopf sind. Der junge Herr kam mir noch nie sehr robust vor. Aber sagen Sie mal, Sie kennen die Familie doch – sind die Gödels Juden? Ich konnte es nie herausfinden, dabei erkenne ich einen Jud’ schon von Weitem.“
    Ich flüchtete, ohne mich zu verabschieden. Stundenlang irrte ich umher und stieß Passanten an, bis ich mich entschloss, zur Wohnung meiner Eltern in der Langen Gasse zurückzugehen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, allein zu Hause zu sein.
    Das war unmöglich, das konnte nicht sein! Nicht er. Ich hätte es kommen sehen müssen. Vorigen Samstag hatten wir noch zusammen zu Abend gegessen. Nein, ich hatte gegessen, er hatte mir dabei zugesehen. Wie konnte ich so blind gewesen sein? In letzter Zeit hatte er an nichts mehr Freude gefunden, er hatte nicht einmal Verlangen nach mir gehabt. Ich schrieb diese Lustlosigkeit seiner großen Erschöpfung zu. Er hatte so viel gearbeitet. Aber nun war es vorüber, er sagte selbst, dass seine Arbeiten nun langsam akzeptiert werden würden. Er hatte seine Dissertation geschrieben, sie war veröffentlicht worden – der Weg war frei für ihn. Ich hatte es wohl einfach nicht sehen wollen! In meinen Kreisen kurierte man solche Leiden mit Alkohol. Ein Sanatorium war etwas für Tuberkulosekranke.
    Ich erkannte keine speziellen Ursachen für seinen Schwächeanfall, nur ein bisschen zu viel Druck, zu viele durchwachte Nächte, zu viel von mir, zu viel von Marianne. Zu viel Dunkelheit nach dem strahlenden Licht. Bei der ersten Schwierigkeit wurde ich aus seinem Leben geworfen. Seine Familie hatte es nicht für nötig erachtet, mich zu benachrichtigen. Marianne und Rudolf wussten von unserer Beziehung, aber für sie existierte ich gar nicht! Für seine Bekannten war ich das Mädel aus dem Nachtclub. Ein Huhn, dessen Existenz man tolerierte. Zwei Welten, die durch die Dienstbotentreppe voneinander getrennt waren.
    Ich hinterließ meinen Eltern auf dem Küchentisch eine Nachricht und eilte zur Westbahn, wo ich den letzten Zug nach Purkersdorf erwischte. Ich ließ mich auf eine Sitzbank fallen und erst dann dachte ich nach. Wie sollte ich

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