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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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zu ihm gelangen? Ich hatte ja keinerlei Rechte. Seine Mutter war imstande, mich hinauswerfen zu lassen wie ein leichtes Mädchen. Aber ich war Teil seines Lebens, dagegen konnte sie nichts tun. Dieses Mal würde sie nicht gewinnen. Ich würde nicht zulassen, dass diese alte Kuh aus Eifersucht und Schuldgefühlen ihrem Sohn das Grab schaufelte.
    Meine Eltern zeigten auch kein größeres Verständnis. Ihrer Welt gehörte ich nicht mehr an und Kurts Welt würde ich nie ganz angehören. Ich war allein. Und wenn ich an diesem Abend nicht im Nachtfalter erschien, hätte ich nach meiner Rückkehr vielleicht auch keine Arbeit mehr. Für eine Tänzerin hatte ich schon zu viele Fehlstunden. Aber das war mir ziemlich egal. Auch wenn niemand etwas davon wissen wollte, so war ich mir doch sicher, dass ich Kurt vor sich selbst retten konnte. Falls er es vergessen hatte, müsste ich ihn daran erinnern.
    Auf der Fahrt strich ich meine zerknitterten Kleider glatt, so gut es ging, und frischte mein lädiertes Make-up auf. Schnell wichen die stolzen Fassaden Wiens dem Grün. All diese Natur widerte mich an.
     
    Ich wurde im Personalbüro des Sanatoriums vorstellig – ein gepflegtes Gebäude, das trotz seiner strengen Sachlichkeit eher wie ein Luxushotel aussah als wie eine Klinik. In solchen Einrichtungen hatte man immer Bedarf an Mädchen wie mir, allerdings konnte ich keinerlei Referenzen vorweisen, und die Zeiten waren hart, also überließ man mich höflich wieder meiner Not. Ich trieb mich am Rand des Parks herum und mied den Haupteingang. Der kühle Rasen, die Stille, unterbrochen von den Schreien der Krähen, der leichte Duft von Suppe und geschnittenen Buchsbaumhecken – damals wusste ich noch nicht, dass es ein Vorgeschmack auf die nächsten Jahre unserer Hölle war.
    Ein Zimmermädchen machte vor dem Lieferanteneingang Pause. Ich schnorrte von ihr Tabak, aber meine Hände weigerten sich, eine gerade Zigarette zu drehen.
    „Sie haben auch schon bessere Tage gesehen.“
    Ich rang mich zu einem angedeuteten Lächeln durch.
    „Hier ist man daran gewöhnt, traurigen Menschen zu begegnen. Man könnte fast sagen, es ist die Spezialität des Hauses. Ganze Wagenladungen kommen hier an. Da ist echt was los!“
    „Ich bin die Freundin eines Patienten, aber ich darf ihn nicht besuchen.“
    Sie zog ein Tabakfädchen aus dem Mund.
    „Wie heißt Ihr Freund?“
    „Kurt Gödel. Ich habe seit Tagen nichts mehr von ihm gehört.“
    „Zimmer 23. Er macht eine Schlafkur. Es geht ihm schon wieder einigermaßen.“
    Ich drückte ihren Arm, freundlich schob sie mich weg.
    „Aber er ist trotzdem in schlechter Verfassung. Er ist dürr wie ein Ast. Ich mag ihn. Er bedankt sich immer, wenn man ihm das Zimmer macht. Das ist nicht bei allen so. Doch abgesehen davon spricht er kein Wort. Anders als seine Mutter, das ist eine! Hier meckert sie rum, dort schimpft sie die Krankenschwestern aus – eine Nervensäge ersten Ranges!“
    „Was können sie für Kurt tun?“
    „Das hängt von Doktor Wagner-Jauregg ab, meine Liebe. Wenn er guter Laune ist, bekommt Ihr Freund ein paar Spritzkuren und ein paar Tränendrüsensitzungen, dann darf er wieder heim ins Nest. Der Chef ist ein dicker Kumpel von Herrn Freud. Eine Berühmtheit! Er bringt uns viele Patienten. Die meisten kommen mit einem durchnässten Taschentuch in der Hand aus seiner Sprechstunde. Scheinbar hilft es ihnen. Bei den anderen zieht Wagner-Jauregg eher körperbetonte Behandlungen vor.“
    Ich paffte an meiner schlecht gedrehten Zigarette.
    „Wagner-Jauregg ist nicht gerade für seine Sensibilität bekannt. Wenn man ihn so hört, rechtfertigt die Wissenschaft alles. Spezialfälle behandelt er mit Elektroschocks.“
    „Wozu?“
    Sie schnippte ihre Zigarette in die Hecke.
    „Um sie wieder in die Realität zurückzubringen. Als müsste man ihnen noch klarmachen, dass diese ganze Scheiße sehr real ist! Ich sage mir eher, dass Teile ihres Gehirns Urlaub machen … Der Vorteil von Elektroschocks ist, dass die Patienten nicht mehr schreiend mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Ein Gutes hat es also. Aber sie machen ins Bett. Das macht uns Arbeit. Ich muss jetzt los, muss wieder an die Arbeit.“
    Sie zog ihre weiße Haube auf ihrem roten Dutt zurecht und reichte mir ihren Tabaksbeutel.
    „Noch eine für den Weg? Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken. Ihr Freund ist kein Sonderfall. Er leidet an Melancholie, sagen sie. Er ist einfach nur traurig. Das liegt an diesen Zeiten. Kommen Sie

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