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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Adele trank ihren Cocktail. „Ich habe mein halbes Leben in solchen Gefängnissen verbracht, auf beiden Seiten des Gitters. Als Besucherin bin ich hinterher immer ins Kino gegangen, um auf andere Gedanken zu kommen.“ Sie hielt Anna die Tasse hin, damit sie nachschenkte. Anna kam der Bitte großzügiger und mit weniger Tee nach. „Was machen Sie immer danach, um dieses ganze Alter abzuwaschen?“ Anna blickte auf den bernsteinfarbenen Grund ihrer Tasse. Sie entschied sich für die Wahrheit.
    „Ein Bad, ein Glas Weißwein, ein Buch.“
    „Gleichzeitig?“
    „Man sollte gefährlich leben.“
    „Bücher habe ich nie gemocht. Ich hatte Konzentrationsschwierigkeiten, hatte kein Sitzfleisch. Ich musste die Sätze immer dreimal lesen. Kurt hat sich hinter seinen Büchern verschanzt. Sie waren eine zusätzliche Barriere zwischen uns.“
    Adele stellte die Tasse in einem labilen Gleichgewicht auf ihren Schoß. Sie hielt sich die Finger vors Gesicht wie eine Brille und sagte mit Nachdruck:
    „‚Ich bin anderswo, mich erreichen Sie nicht!‘ Ja, ich wollte dem Schweigen entfliehen, wollte Menschen um mich herum haben. So landete ich im Kino. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mir das fehlt!“
    Anna hörte sich selbst reden und bereute es gleichzeitig auch schon, als sie sagte:
    „Und wenn ich um Erlaubnis fragen würde, Sie ins Kino auszuführen?“
    „Ich würde Sie sofort in meinem Testament bedenken! Mein trauriger breiter Hintern klebt schon zu lange in der Wirklichkeit fest!“
    Anna dachte bereits an die vielen Komplikationen, die ihr Vorschlag nach sich ziehen würde. Sie goss einen zweiten kräftigen Schluck Bourbon in den lauwarmen Tee.
    „Ich habe seine Papiere nicht weggeworfen, Anna. Aber Sie dürfen nicht glauben, dass ich Ihnen das sage, weil Sie mich ausführen wollen. Ich bin keine pflegeleichte Person.“
    „Ich auch nicht, Adele. Ich auch nicht.“
    Die alte Dame schmatzte mit den Lippen.
    „Was läuft zurzeit Schönes?“
    „ Manhattan . Ein Schwarzweißfilm von Woody Allen, einem Regisseur aus New York.“
    „Den Namen kenne ich. Der ist mir zu vergeistigt. Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben in einem Schwarzweißfilm verbracht zu haben – in einem Stummfilm! Fast. Verdammt, ich will Technicolor! Musik! Warum produziert man in Hollywood keine Musicals mehr?“
    „Um ehrlich zu sein, so etwas gefällt mir nicht.“
    „Das ist Ihnen wohl zu gewöhnlich. Eure Hoheit ziehen sicherlich das französische Kino vor.“
    „Woher nehmen Sie das Recht, über mich zu urteilen?“
    „Arme Kleine! Ich wurde mein Leben lang beurteilt: unfähig, dumm, vulgär. Nie auf Augenhöhe. Ich habe geheult, habe gegen alle geschlossenen Türen getreten, aber ich bin immer ‚die Österreicherin‘ geblieben. Princeton war nicht meine Welt. Eines Tages habe ich gesagt: ‚Scheiße!‘, und habe mitten im Garten einen grellrosaroten Flamingo in die Erde gesteckt. Können Sie sich die Kommentare dazu vorstellen? Ein rosa Flamingo bei Kurt Gödel … Seine Mutter hätte fast ihr Perlencollier verschluckt! Ich kam mir vor wie der letzte Trottel. Ich mag Musicals, Liebeslieder, bunte Bilder, ich lese nicht und ich gehe allen auf den Geist … Wenn Sie sich deprimierende Filme ansehen wollen oder vor Sonnenuntergang einen Schluck trinken – es steht Ihnen frei, Anna. Aber was zählt, ist die Freude. Freude!“
    „Was hat Ihr Mann zu dem rosa Flamingo gesagt?“
    „Ha, hat er denn überhaupt bemerkt, dass wir einen Garten hatten?“

12.
1933
Die Trennung
    „Liebe ist, dass Du mir das Messer bist,
mit dem ich in mir wühle.“
Franz Kafka, Briefe an Milena , 14. 9. 1920
     
     
    Mit der Krankenschwester Anna als Komplizin konnte ich die Zensur der Familie umgehen und Kurt in der Zeit seines ersten Aufenthalts im Sanatorium besuchen. Anna war die Tochter russischer Einwanderer. Ihre Eltern, Hausangestellte, waren ihrer Herrschaft auf der Flucht vor der bolschewistischen Bedrohung gefolgt. Aus Liebe hatte Anna einen Wiener Uhrmacher geheiratet, der am Kohlmarkt, ganz in der Nähe des Cafés Demel , einen Laden betrieben hatte. Ihre Schwiegereltern, überzeugte Katholiken, hatten die Verbindung ihres Sohnes mit einer Jüdin nie akzeptiert. Nachdem ihr Mann kurz nach der Geburt ihres Sohnes Peter an Tuberkulose gestorben war, war sie ganz auf sich gestellt – mit einem Kind und einem senilen Vater am Hals. Wie durch ein Wunder hatte sie diese Stelle im Sanatorium Purkersdorf gefunden, wo sie in einem

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