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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Bettkante und fühlte ihm mit Blick auf seine Uhr den Puls. Er bedachte mich mit einem offen wollüstigen, unverschämten Blick. Mein Mann stand auf, ich stellte mich neben ihn und wartete, bis der Doktor ging. Dann holte ich den Zeitungsausschnitt aus der Tasche.
    „Dein Idol ist auf und davon, Kurtele. Maria Cebotari singt nun in der Berliner Oper.“

17.
    Anna klopfte wieder an die Tür. Die Antwort ließ auf sich warten. Adele hatte weder auf ihren reumütigen Brief reagiert noch auf das beiliegende kostspielige Päckchen. Annas Wut auf die alte Dame kehrte sich schließlich gegen sie selbst, ohne dass sie wusste, wo genau sie ansetzen sollte. Sie hätte sich nicht auf diese schnelle Intimität einlassen dürfen. Sie war zu zutraulich gewesen, hatte sich für unersetzlich gehalten. Unfickbare Jungfrau – das würde sie sich nicht gefallen lassen.
    „Kommen Sie rein.“ Auf Zehenspitzen betrat Anna das nach Lavendel duftende Zimmer. Adele Gödel, gepudert und parfümiert, hatte große Toilette gemacht. „Ich freue mich, Sie zu sehen, Anna.“ Dass Adele ihr Gedächtnis im Stich gelassen hatte, war wenig wahrscheinlich – sie hatte wohl beschlossen, so zu tun, als sei nichts gewesen. „Liebes Kind, ich habe Ihr schüchternes Klopfen wiedererkannt. Da Sie Ihre Nase gern in die Angelegenheiten anderer Leute stecken, habe ich hier ein paar Kleinigkeiten für Sie.“
    Die junge Frau straffte sich – Adele hatte es also nicht vergessen. Anna würde sich mit dieser Waffenruhe begnügen. Sie zog ihren Mantel aus und sah, wie Adele sehr vorsichtig eine Klarsichtfolie öffnete. „Wo habe ich denn meine Brille?“ Anna brachte sie ihr folgsam. Adele klopfte auf die Bettdecke. „Setzen Sie sich neben mich. Bevor man mich hierhergebracht hat, habe ich diese Erinnerungen zur Seite gelegt.“ Anna spürte, wie ihr Groll verflog, als sie die erste Fotografie sah, ein antiquiertes Bild von zwei kleinen Jungen, einer davon war Kurt, er hielt eine Puppe im Arm, sein Bruder Rudolf einen Spielreifen. Kurt war in einem Alter, in dem damals auch Jungen Kleidchen getragen hatten.
    „Hier ist mein ‚kleiner Herr Warum‘.“
    „Ich würde so gern auch ein Foto von Ihnen als Kind sehen.“
    „Wir haben Wien überstürzt verlassen. Als ich zurückkam, war alles weg.“
    „Sie müssen ein fröhliches Mädchen gewesen sein.“
    Die alte Dame kratzte sich unter dem Turban am Nacken. Das schöne Blau war am Rand schon gelblichgrau geworden.
    „Ich war die älteste der drei Porkert-Schwestern. Liesl, Elisabeth und Adele, ein tolles Trio! Wir haben einen Mordsspektakel veranstaltet. Mein Vater hat immer gesagt, ich sei ein Dickschädel.“
    Anna traute sich nicht auszusprechen, was ihr auf der Zunge lag. Sie bezweifelte, dass sie schon wieder ein Recht auf ironische Kommentare hatte.
    „Ich bin in einer schlechten Zeit zur Welt gekommen. Heutzutage haben Mädchen viel mehr Möglichkeiten. Wir waren … wie Gefangene. Jede Freiheit hatte einen hohen Preis. Und dann haben wir auch so viele Kriege durchgemacht. Wir Frauen lebten immer in der Angst, dass unsere Männer eingezogen werden. Selbst mein Mann. Er hatte alle möglichen Atteste, dennoch haben sie ihn für tauglich erklärt.“
    „Sind Sie deswegen in die Staaten ausgewandert, damit er der Einberufung entkommt?“
    „Wir hatten ganz andere Sorgen, meine Süße.“
    Anna nahm ein weiteres Foto zur Hand. Das freundliche Wort, das die alte Dame in ihren Satz hatte einfließen lassen, hatte ihr sehr gefallen. Aber für einen Hauch von Zuneigung würde sie ihre Demütigung nicht vergessen. Auf dem winzigen Bild sah man Adele vor einem Bühnenvorhang im Pagenkostüm. An der Hand hielt sie einen Mann, dessen Gesicht mit Schuhcreme eingeschmiert war.
    „Das einzige Zeugnis meiner glänzenden Karriere als Tänzerin. Mit klassischem Ballett hatte das aber nichts zu tun, es war eher Pantomime.“
    „Zu einer Zeit, als Farbige auf der Bühne nicht willkommen waren.“
    „Den ersten echten Schwarzen habe ich 1940 bei meiner Ankunft in San Francisco gesehen. Selbst in den Wiener Nachtclubs war ich keinem begegnet.“
    „Billie Holiday hat erzählt, dass man sie anfangs nicht für schwarz genug gehalten hat, um Jazz zu singen. Sie hat ihr Gesicht immer dunkler geschminkt. Komische Zeiten.“
    „ Komische Frucht – Strange Fruit –, so hieß doch das Lied von Billie Holiday. Ach, Billie! Aber Amerika hatte auch sein Gutes. Als ich hierherkam, hat mir die Musik sehr geholfen –

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