Die Göttin der kleinen Siege
Örtlichkeit schon aufgehalten hatten. Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Arthur Schnitzler hatten sich hier inmitten von Maharanis und Millionären aus aller Herren Länder Luxuserholungsaufenthalte gegönnt – selbstredend vor der großen Krise. 1936 machten sich deprimierte Reiche in Purkersdorf bereits so rar wie auch in der Wiener Nacht.
Die eher strenge Manieriertheit der Inneneinrichtung konnte ich nicht mehr sehen! Der Architekt, ein gewisser Josef Hoffmann, hatte einen krankhaften Hang zum Viereckigen – Friese, Bodenfliesen, Durchgänge, Fensterkreuze bis hin zum Korpus der unbequemen Sessel, auf denen ich mein Leben mit Warten vergeudete. Selbst die Fassade war von Fensteröffnungen durchbrochen, die wiederum in kleine Vierecke eingeteilt waren. Ich brauchte grundsätzlich etwas Weiches. Weder in den geometrischen Zimmern noch in diesem rigide angelegten, geschniegelten Park hätte ich Trost gefunden. Doch für Kurt war es der perfekte Ort – sauber, ruhig, ordentlich. Auch der vornehme Oskar Morgenstern – dem Vernehmen nach ein nicht anerkannter Enkel des deutschen Kaisers Friedrich Wilhelm – schien sich in dieser mir zu linear ausgerichteten Umgebung sehr wohl zu fühlen.
„Sie waren ihm eine sehr große Hilfe, Fräulein Porkert. Kurt hat es mir anvertraut. Dabei ist er kein Mann, der jemandem sein Herz ausschüttet.“
Morgenstern drückte mir herzlich die Hand – das einzige Mal in unserer gemeinsamen Geschichte, dass er mich überhaupt berührt hat.
„Wissen Sie, ob er seine Arbeit wieder aufgenommen hat? Ich habe ein paar Veröffentlichungen dabei, die ihn vielleicht interessieren, vor allem die des jungen englischen Mathematikers Alan Turing.“
Er missverstand meine Verlegenheit.
„Ich wollte nicht in Sie dringen.“
„Wir dürfen ihm keine Papiere mehr bringen. Eine gute Seele hatte ihm Post von irgendeinem Deutschen zukommen lassen. Danach hat Kurt wieder aufgehört zu essen – tagelang. Er ist der Meinung, dass man seine Arbeit in Abrede stellt, er sieht darin ein Komplott, um ihn endgültig wegzusperren.“
„Ein gewisser Gerhard Gentzen hat versucht, Kurt zu widerlegen, konnte aber dessen Theoreme nicht infrage stellen. Alle hängen sich noch immer an David Hilbert wie an die Mutterbrust. Aber Turings Forschungen dürften Kurt mehr interessieren.“
„Sein Lesestoff wird strikt zensiert. Momentan bekommt er weder Bücher noch Schreibpapier, noch Bleistift.“
„So ein Unsinn! Zu verhindern, dass Gödel arbeitet, ist, wie ihm das Atmen zu verbieten.“
Aus Erfahrung konnte ich ihm voll und ganz beipflichten. Für meinen Mann war die Arbeit sowohl Rettungsboje als auch -anker. Ich drehte mich um, um zu sehen, ob Rudolf schon zurück war. Morgenstern flößte mir Vertrauen ein. Kurt brauchte zuverlässige Freunde.
„Wir haben eine Vereinbarung getroffen: Ich bringe ihm heimlich Dinge, solange er Körpergewicht zulegt. Wenn nicht, nehme ich ihm sein Spielzeug wieder weg.“
Morgensterns Bestürzung überraschte mich nicht.
„Es mag Ihnen barbarisch vorkommen, aber es ist die einzige Möglichkeit, um weiterzukommen. Kurt erträgt es nicht mehr, zwangsernährt und von Medikamenten benebelt zu werden. Er hat es verdient, dass man zumindest noch so tut, als könne er über sich selbst bestimmen.“
„Weiß Rudolf Bescheid?“
„Er drückt beide Augen zu. Die Fortschritte seines Bruders beruhigen ihn.“
„Dann arbeitet Kurt also? Endlich eine gute Nachricht! Hat er angedeutet, worüber er momentan forscht?“
Aus seiner Frage hörte ich keine Herablassung heraus. Ich war von der dummen Gans zur Krankenschwester aufgestiegen. Diese zusätzlichen Meriten missfielen mir zwar nicht, aber ich verdiente eine offiziellere Position. Ich zögerte also – inwieweit konnte ich Morgenstern vertrauen, nachdem Kurt mir die Ohren über den Neid seiner Kollegen vollgeheult hatte?
„Ich habe gehört, dass er vom ersten Problem gesprochen hat.“
„Des Hilbertprogramms? Das Kontinuumproblem von Cantor? Will Kurt diese Hypothese noch immer widerlegen?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
„Natürlich nicht. Das erste Hilbertsche Problem. Kurt hatte bei einem Vortrag in Princeton erwähnt, dass er diesbezügliche Ambitionen hat. Allein die Wahl seines Forschungsgegenstandes scheint mir … Aber ich schweife ab, entschuldigen Sie mich bitte. Rudolf ist zurück, ich möchte Kurt begrüßen, dann überlasse ich Ihnen das Feld.“
Ich hielt ihn am Ärmel zurück.
„Herr
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