Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
gefallen, als ich ihren kurzen Brief erhalten hatte – Frau Gödel wünschte eine Unterredung allein mit mir an einem ruhigen Ort. Besser gesagt, sie wollte ohne Kurts Beisein mit mir sprechen. Trotz meiner zehnjährigen Beziehung zu ihrem Sohn hatte sie mir nie die Ehre eines Treffens gegeben. Ich hatte ihr zurückgeschrieben, hatte den Brief hundertmal neu begonnen, und ihr vorgeschlagen, uns im Sacher neben der Oper zu treffen, denn ich kannte ihre Liebe für die Musik und wollte guten Willen zeigen. Kurz angebunden hatte sie erklärt, dass sie einen noch ruhigeren Ort wünsche – bestimmt wollte sie nicht mit mir gesehen werden. Also schlug ich den Friedhof von Grinzing vor, neben Gustav Mahlers Grab. Diese Ironie würde sie wohl verstimmen, aber damit hatte ich gerechnet. Dass sie zu uns käme, hatte sie rundheraus abgelehnt, obwohl ich ihr vor Augen geführt hatte, dass es doch von Vorteil wäre, wenn sie mit eigenen Augen sehen könnte, was für ein behagliches Heim ihr Sohn in Grinzing hatte. Wir wohnten gleich an der Endhaltestelle der Linie 38 – Kurt musste vor der Universität also nur in die Straßenbahn steigen und nach Hause fahren. Das viele Grün war seiner Gesundheit zuträglich. Selbst der berühmte Doktor Freud hatte in diesem ruhigen Vorort ein Landhaus, wir waren also in achtbarer Gesellschaft. Ich hegte mit der Zeit viel Groll gegen Marianne, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, die „liebe Mama“ zu treffen, die alle möglichen Tugenden auf sich vereinte – unvergleichliche Gastgeberin, vollendete Musikerin, liebende Mutter.
    Streng und entschlossen wartete sie vor dem Grabmal aus grauem Konglomerat. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, ohne mich zu grüßen.
    „Mahler ist hier mit seiner Tochter begraben, sie starb mit fünf Jahren.“
    „Wollen Sie sich setzen, gnädige Frau? Auf der anderen Seite des Weges gibt es eine Bank.“
    Mit einer herrischen Handbewegung fegte sie mein Angebot weg.
    „Sie kennen die Ängste einer Mutter nicht, Fräulein. Ich fürchtete, Kurt mit acht Jahren wegen eines rheumatischen Fiebers zu verlieren. Seit seiner Geburt verging keine Minute, ohne dass ich Angst um ihn gehabt hätte.“
    Dass ich diese Erfahrung nicht teilen konnte, besiegelte meine Niederlage. Dies nutzte sie aus. Ich musste die Wut unterdrücken, die in mir aufstieg.
    „Kurt war mir immer sehr verbunden. Wussten Sie, dass er mit fünf Jahren geschrien und sich auf dem Boden gewälzt hat, wenn ich das Zimmer verlassen habe?“
    Die Worte brannten mir auf der Zunge. Ich sah mir die Dame genau an, um mich von dem unerquicklichen Gesprächseinstieg abzulenken. Sie war jedenfalls nicht gekommen, um mir lediglich eine Verteidigungsrede ihrer Mutterschaft zu halten, sondern es war ein Postulat ihres Systems, wie Kurt gesagt hätte.
    Rudolf kannte ich – ein vornehmer Herr mit hellen Augen, durchdringendem Blick und beginnender hübscher Kahlheit. Marianne aber hatte ich nie zuvor gesehen, nicht einmal ein Foto von ihr. Ich suchte im Gesicht der Muttergöttin jene Züge, die ich an meinem Mann so liebte. Sie ging auf die fünfzig zu. Ihre inquisitorischen Augen lagen tief unter hängenden Lidern, was ihr einen erstaunten und zugleich wachsamen Blick verlieh. Sie war von gefürchteter Klugheit, die personifizierte Intelligenz. Es war der gleiche, nur wache Blick wie der schlafwandlerische Blick ihres Sohnes. Sie hatte noch immer einen vollen Mund, aber ihre Mundwinkel hingen verbittert herunter, es sei denn, sie wäre mit dem enigmatischen Lächeln der Wohlsituierten geboren worden. Sie wirkte eher argwöhnisch denn bösartig, sie steckte im Korsett ihrer bürgerlichen Erziehung und der hochfliegenden Vorstellungen fest, die sie bezüglich der Zukunft ihres Sprösslings hatte. Die Nase war vielleicht die gleiche.
    „Princeton hat meinem Sohn erneut ein interessantes Angebot gemacht. Er hat schon mehrere Einladungen ausgeschlagen. Diese nun kam unerwartet, aber leider weigert er sich, Sie zu verlassen. Die Stimmung in Wien wirkt sich sehr störend auf ihn aus. Das Ganze wird übel ausgehen. Sie müssen ihn überreden, auszuwandern – wenn es sein muss, auch mit Ihnen.“
    „Warum sollte ich? Meine Familie ist hier. Unser Leben ist hier.“
    „Sie sind wirklich einfältig. Italien wird Österreich aufgeben, es ist nur mehr eine Frage von Monaten. In Bälde wird die Stadt dem Wahnsinn anheimfallen und die Deutschen mit offenen Armen empfangen. Er muss weg – schnell!“
    „Wir sind

Weitere Kostenlose Bücher