Die Göttin der kleinen Siege
abgesehen vom Bebop, den ich nicht leiden konnte. Wie hieß dieser Musiker doch gleich? Charlie Parker. Bei dem wurde mir schwindlig! Manche Studenten waren ganz verrückt nach seiner Musik. Sie haben den Radau, den er veranstaltet hat, mit Bach und mit Mathematik verglichen. Na ja, aber Bach habe ich schon immer trübselig gefunden.“
„Sind Sie mit Ihrem Mann in Jazzclubs gegangen?“
„Mit Kurt? Soll das ein Witz sein? Er konnte Lärm und Menschenansammlungen nicht ausstehen. Nein, ich habe die Lieder im Radio gehört. Ella, Sarah … Für Billie Holiday, Lady Day , hatte ich eine besondere Schwäche. Kennen Sie das Lied It’s Easy to Remember (And So Hard to Forget) ?“
„Die alten Fotos tun Ihnen wohl nicht gut, Adele.“
„Ich schaue sie nicht oft an. Das muss ich nicht, ich habe alles hier oben.“
Unter der Berührung ihres Fingers rutschte der Turban über die Schläfe, ein ranziger Geruch strömte hervor. Anna atmete durch den Mund. Dieser Körpergeruch, vermischt mit dem vertrauten Lavendelduft, verstörte sie. Adele hatte ihr Geburtstagsgeschenk, einen Flakon des Lieblingsparfüms von Annas Großmutter, großzügig angebrochen. Wehmütig begriff Anna, dass es ein Fehler gewesen war, das Parfüm eines geliebten, toten Menschen einer anderen Frau zu schenken.
„Das hier war 1939, wenn ich mich recht entsinne. Kurz vor unserer weiten Reise.“
„Sie waren ja richtig weißblond!“
„Sie haben Ihr Haar noch nie gebleicht. Das ist nicht Ihr Stil. Mein Gott, was war dieses Bleichen für eine Qual! Es war damals Mode. Haben Sie meine Brust gesehen? Mit vierzig war ich noch immer schlank. Damals waren die Frauen in diesem Alter schon verbraucht.“
Auf dem Schwarzweißfoto trug Adele ein dunkles Kostüm mit Ballonärmeln, ausgeschnittenem Dekolleté und wadenlangem Glockenrock. Neben ihr stand Kurt breitbeinig da und blickte geradeaus, unter seinem offenen Trenchcoat war ein makelloser Anzug zu sehen.
„Ich hatte meinen unvermeidlichen Schirm unterm Arm. Eines Tages werde ich Ihnen davon erzählen.“
„Sie blicken nicht in die Kamera.“
„Adele die Ägypterin, immer im Profil. Adele die Behinderte, immer nur eine halbe Frau.“
Anna legte die Fotos auf der Bettdecke aus. Die erbarmungslose Entwicklung eines Lebens wurde im Zeitraffer sichtbar: Adele wurde immer dicker, Kurt schien zu schrumpfen, bis er in seinen Anzügen verschwand. Am Ende sahen die beiden aus wie eines dieser Vogelpaare, deren Namen Anna vergessen hatte. Sie griff sich irgendein Bild heraus. Kurt Gödel stand mit gekrümmtem Rücken an einer Reling wie ein alter Mann.
„War das auf der Überfahrt nach Amerika?“
„Dieses Bild mag ich nicht. Vergessen Sie es. Sehen Sie sich lieber das von unserem Hochzeitstag an, wir haben im Empire State Building gegessen.“
„Es war Ihr einunddreißigster! Wer hat das Foto gemacht?“
„Sicherlich der Hausfotograf, der einem mit seinem Mundwerk auf die Nerven fällt. Nach dreißig Jahren ist man froh, dass man sich erpressen ließ.“
„Hübscher Hut.“
„Ich habe ihn auf der Madison Avenue gekauft. Ein Irrsinn, weil wir so knapp bei Kasse waren. Aber ich habe ihn mir gegönnt. Nach zehn Jahren Ehe hatte ich es wahrlich verdient.“
„Sie sehen glücklich aus.“
„Das hier ist eine schöne Erinnerung. 1949 sind wir in die Linden Lane gezogen. Endlich hatten wir ein richtiges Zuhause.“
„Man sieht ihn selten so lächeln.“
„Kurt war kein extrovertierter Mensch.“
„Sie hatten viel Mut. Sie haben eine absolute Liebesgeschichte erlebt.“
„Sie sind naiv. Im Lauf eines Lebens ist das Absolute mit vielen kleinen Verzichtsmomenten gepflastert.“
„Ich ging aufs College, als meine Eltern sich scheiden ließen. Verzicht stand nicht in ihrem Karriereplan.“
Adele sammelte die Fotos wieder ein, sie versuchte, sie zu ordnen, bevor sie sie weglegte. Sie legte die Hand auf Annas Schenkel.
„In einem gewissen Alter muss man gelernt haben, die Zeche ganz allein zu bezahlen, meine Hübsche.“
Anna stand abrupt auf – Adeles Worte waren wie ein Rohrstock, der ihren widerspenstigen Rücken mit Gewalt geradebiegen wollte. Immer wenn es ihr schlecht ging, hätte sie es vorgezogen, kein Wunschkind gewesen zu sein. Sie war nicht so kindisch, aber selbst wenn sie die Familienlegende von jedem romantischen Anstrich befreite, konnte sie sich an dieser Bitterkeit nicht ergötzen. Sie war nicht die schändliche Frucht eines Ficks auf der Rückbank eines Buick,
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