Die Göttin der kleinen Siege
sondern das natürliche Ergebnis wahrer Liebe.
Der gut aussehende, gepflegte Doktorand George hatte Rachel, den letzten Zweig eines wohlhabenden Stammbaums, beim Empfang der neuen Geschichtsstudenten in Princeton kennengelernt. Das junge Mädchen hatte gefröstelt, er hatte ihm seine Jacke geborgt. Rachel war beeindruckt gewesen von seinem Cabriolet und von seinem Bostoner Akzent. Er hatte ihren Körper – der einer Hollywood-Diva – und ihren noch nachvollziehbaren Ehrgeiz bewundert. Am nächsten Tag hatte er sie angerufen. Sie stellte ihn ihrer Familie vor. Sie heirateten. Sie fingen an, ihre Unterschiedlichkeiten zu hassen, die sie einmal aneinander geliebt hatten. Sie betrogen einander aus Sport, aus Gewohnheit, dann trennten sie sich mit viel Getöse. Anna war vierzehn Jahre alt. „Das ist eben sehr gaußisch.“ Damit wollte Leo sie nach der Ankündigung der Scheidung trösten. Damals waren die prätentiösen Metaphern des aufkeimenden Genies so zahlreich wie die Haare an seinem Kinn, die er überhaupt nicht haben wollte. Er hatte schon früh damit begonnen, die Rechnung aufzustellen, die er seinen Eltern präsentieren würde. Anna hatte ihren Eltern nicht viel vorzuwerfen, sie hatten fähige Pflegemütter und gute Schulen für sie ausgesucht. In ihrer Familie gab es keine Dramen, die einen Charakter formen und, später, eine Geschichte. Kein wissentlicher Inzest, kein Alkoholismus, kein Selbstmord. Ihre Eltern litten nicht einmal an einer gutbürgerlichen Neurose. Ernüchterung war damals nicht sehr verbreitet. In ihren Dreißigern hatten sie vom Nachkriegsüberfluss profitiert, in ihren Vierzigern von der Aufweichung der Sitten. Die Geister der Shoah verließen niemals die vier Wände von Annas Großmutter Josepha. Sie war die Einzige, die sich traute, das Gedenken an die Verschwundenen zu wahren. Bei Tisch wurde das Thema gewechselt, wenn sie sich eine entsprechende Äußerung erlaubte. Anna konnte es ihren Eltern nicht verdenken, dass sie die Koffer ihrer eigenen Vorfahren zur Gepäckaufbewahrung gegeben hatten. Sie wollten überleben.
„Sie sind so nachdenklich, Miss.“
„Ich dachte an die Gaußsche Kurve. Das ist eine Darstellung der statistischen Normalverteilung.“
„Wollen Sie mir jetzt etwa mit Mathe kommen?“
„Sie zeigt, dass bestimmte Variabeln einer Funktion die Tendenz haben, sich so zu verteilen, dass sie grafisch eine Glockenkurve ergeben. Die mittleren Werte bilden die Glocke, die Mehrheit. Verglichen damit, ist die Wahrscheinlichkeit, größere oder kleinere Werte zu erhalten, gering. Wie die Verteilung des IQ in einer gegebenen Bevölkerung.“
„Solche Diskussionen hatte ich mehr als zur Genüge!“
„Sie fallen aus der Gauß-Glocke heraus, Adele, aus der Normalverteilung. Sie hatten ein außergewöhnliches Leben.“
„Wie ich Ihnen schon sagte, Anna: Jedes Geschenk hat seinen Preis.“
18.
1937
Der Pakt
„Wenn Leute nicht glauben, dass Mathematik einfach ist,
dann nur deshalb, weil sie nicht begreifen,
wie kompliziert das Leben ist.“
John von Neumann
Auf halbem Weg zum Friedhof Grinzing spürte ich, dass mein Strumpf rutschte. Als ich ihn wieder hochzog, riss ich eine Laufmasche hinein. Ich war spät dran. Verschwitzt und schlampig würde ich vor Kurts Mutter erscheinen. Ich hatte meine Zeit damit verplempert, die passende Garderobe für dieses Treffen zusammenzustellen. Ich war nervös, dabei hatte ich doch nur wenig zu verlieren. Wenn Marianne entschlossen war, unsere Beziehung zu unterbinden – warum hatte sie Kurt dann nicht zu sich zitiert, bevor sie wieder nach Brünn zurückkehren wollte? Bevor wir endlich die Gelegenheit hätten, zusammenzuleben?
Was wollte sie also von mir? Kurt hatte mir gesagt, dass sie mir unterstellte, heimlich ein Kind zu haben. Das hat mich besonders verletzt. Hinter ihrem Geld her zu sein konnte sie mich nicht mehr bezichtigen, denn durch die Krise war der Wohlstand der Familie geschwunden. Kurts älterer Bruder Rudolf, Radiologe in Wien, war der eigentliche Ernährer der Gödels. Kurt war noch weit davon entfernt, für unsere Bedürfnisse aufkommen zu können, auch wenn ich immer mit wenig ausgekommen war. Sicherlich war der Mutter bewusst, dass ich von nun an zur Familie gehörte, sei es wegen Kurts mehrfacher Rückfälle oder wegen ihres Ärgers mit den Behörden. Ich musste Mariannes Mut anerkennen, denn wider alle Vernunft äußerte sie laut und deutlich ihre Abscheu vor den Nazis.
Ich war aus allen Wolken
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