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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Morgenstern! Was ist dieses Hilbertprogramm? Worüber muss ich mir Sorgen machen?“
    „Das ist ein ziemlich kompliziertes Thema.“
    „Ich bin schon lange mit Kurt zusammen und ich bin es gewöhnt, nicht alles zu verstehen.“
    „Das Hilbertprogramm ist für die Mathematiker des 20. Jahrhunderts eine Art Liste der unlösbaren Probleme, die es zu beweisen gilt, um einen Teilbereich der bekannten Mathematik zu konsolidieren. Mit seinem Unvollständigkeitssatz hat Kurt das zweite Problem teilweise bereits bearbeitet.“
    „Was beschäftigt Kurt dann weiterhin so sehr?“
    „Von diesen dreiundzwanzig Problemen sind mindestens siebzehn noch ungelöst. Kurt hat ganz einfach bewiesen, dass gewisse Beweisführungen nicht möglich sind. Wenn Sie nun fragen, welche …“
    „Er könnte also sein ganzes Leben vergebens damit zubringen?“
    „Wenn überhaupt jemand in der Lage ist, das erste Problem zu lösen, dann Kurt!“
    „Und die anderen?“
    „Dazu würden zehn Leben nicht ausreichen. Ich bezweifle gar, dass man diese Fragen überhaupt eines Tages beantworten kann.“
    „Offene Fragen quälen ihn.“
    „Aber, aber! Nein – für unseren Freund ist der Weg das Ziel. Sie haben eine gute Wahl getroffen, Fräulein Porkert.“
    Morgenstern überließ Rudolf seinen Platz. Auf die Gefahr hin, sich das Kreuz zu brechen, ließ er sich in den unbequemen Sessel fallen.
    „Die Krankenschwester macht den Eindruck, dass sie ihn am liebsten erwürgen würde.“
    „Machen Sie sich nichts daraus, es kommen auch wieder bessere Tage.“
    Kurts Bruder flüchtete sich in die Zeitungslektüre. Er rutschte umher, schimpfte und hielt ein Blatt vom 23. Juni hoch.
    „Hören Sie sich an, was dieser Schuft namens ‚Prof. Dr. Austriacus‘ in dem katholischen, regimenahen Blatt Schönere Zukunft geschrieben hat.“
    Leise las er den Artikel, ich beugte mich vor, um mitzuhören: Der Jude ist der geborene Ametaphysiker, er liebt in der Philosophie den Logizismus, den Mathematizismus, Formalismus und Positivismus, also lauter Eigenschaften, die Schlick in höchstem Maße in sich vereinigte. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage.
    Er warf die Zeitung in den Papierkorb.
    „Was für ein Geschmier’! Das wird Kurt umbringen!“
    Ich begriff allmählich: Moritz Schlick war gestern auf der Philosophenstiege der Universität von einem antisemitischen ehemaligen Studenten ermordet worden. Schlick, Mitbegründer des Wiener Kreises, war für Kurt mehr als ein Professor, er war ein Pate, ein Freund gewesen. Wie würde er diesen weiteren Todesfall kurz nach Hahns Ableben verkraften?
    „Der Mörder Hans Nelböck hat zur gleichen Zeit bei Schlick Philosophie studiert wie mein Bruder, und er hat in der Langen Gasse gewohnt.“
    Ich schauderte – in dieser Straße hatte auch ich gewohnt.
    „Sie kannten sich nicht, aber wir waren Nachbarn, sicherlich sind wir uns irgendwann einmal begegnet.“
    „Diese Verrückten machen alles zunichte, was es in Wien überhaupt noch an Geistesleben gibt. Die Nazis haben alle in denselben Sack gesteckt – Logiker, Mathematiker, Juden. Egal, wie absurd das ist. Auch Kurt wird Scherereien bekommen, da bin ich mir sicher. Sobald er wiederhergestellt ist, werde ich ihm raten, das Land zu verlassen. Morgenstern hat mir gesagt, dass er seine Angelegenheiten geregelt hat, er wird sich bald nach Übersee einschiffen.“
    „Kurt ist noch nicht in der Lage zu reisen, gnädiger Herr.“
    „An der Uni werden sie ihn nicht einfach so vergessen. Sie haben schlechte Ideen, aber ein gutes Gedächtnis.“
    „Kurt hatte in letzter Zeit kaum Kontakt zur Universität.“
    „Nelböck war verschiedentlich in psychiatrischer Behandlung. Ich weiß, wie mein Bruder derartige Gegebenheiten aufnehmen wird: Er ist imstande, irgendeinen nebulösen Fluch darin zu sehen. Es wäre wohl klüger, diese Information noch zurückzuhalten. Was meinen Sie, Fräulein Porkert?“
    Ich war es nicht gerade gewöhnt, Rudolf meine Ansichten darzulegen, dennoch war ich eine unverzichtbare Unterhändlerin geworden. Dank meiner Pflege war Kurt endlich wieder zu Kräften gekommen.
    „Er hat eine spezielle Fähigkeit, Fakten zu verknüpfen, vor allem solche, die man ihm zu verschweigen versucht. Lügen ziehen immer weitere Lügen nach sich.“
    „Werden Sie sich also darum kümmern?“
    Ich sah Anna durchs Foyer gehen. Sie gab mir diskret ein Handzeichen – sie würde

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