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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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vor dem Lieferanteneingang eine Zigarette rauchen. Ich beschloss, mich ihr anzuschließen, ich brauchte eine kleine Dosis Kameradschaft, um diese Angst zu betäuben, die mich nicht mehr losließ: Kaum war Kurt wieder einigermaßen auf dem Damm, wollte seine Familie ihn auch schon außer Landes und weit weg von mir bringen. Anna allein könnte Kurts Arzt nicht davon überzeugen, es den Gödels auszureden, aber einen Versuch war es dennoch wert.
    „Ja, ich kümmere mich darum. Aber heute ist es noch zu früh.“
     
    Wir durften Kurts jüngste Fortschritte nicht mit dieser fürchterlichen Nachricht sabotieren. Ich hatte einen zerbrechlichen Mann nach Princeton abreisen sehen, zurückgekommen war ein Schatten. Nach seiner einsamen Rückkehr aus Paris hatte er einen Monat lang die Nahrung verweigert. Er hatte gerade noch sechsundvierzig Kilo gewogen und war in eine Lethargie verfallen, aus der ihn nur meine Stimme wieder herausholen konnte – manchmal.
    Ich hatte weder die erforderliche Ausbildung noch die Berechtigung dazu, aber ich hörte auf die Ratschläge der rothaarigen Anna, die schon gesehen hatte, wie Menschen sich auflösten. Ich gab alles, was ich hatte – Schönheit und Freude. Ich zog die Vorhänge zurück, um Licht und Luft einzulassen, während die Ärzte Kurt im dunklen Käfig des Schlafes einschlossen. Ich ließ sein Grammophon bringen, während sie Ruhe verordneten. Ich brachte ihm die ersten Frühlingsblumen, ich sprach unablässig mit ihm, während er sich immer weiter in sein Inneres zurückzog. Ich log ihn bezüglich der Weltlage an, log, wenn ich ihm die Zeitung vorlas, log ihm meine Fröhlichkeit vor. Ich schilderte ihm die ersten Sommerfrüchte, die wir zusammen essen würden, das sonnige Licht, das wieder auf Wien fallen würde, das Kreischen der Kinder im Prater, die sanfte Anna und ihren süßen Sohn mit dem karottengelben Haar. Ich erzählte ihm vom Meer, das auch die beiden noch nie gesehen hatten, und sagte ihm, wohin wir zusammen reisen würden. Ich tröstete, schimpfte, erpresste ihn wie ein kleines Kind. Ich fütterte ihn, Löffel für Löffel. Ohne Mitleid und ohne Abscheu berührte ich seinen Körper, der demjenigen, den ich begehrt hatte, so fremd geworden war. Ich lauschte seinen Delirien, kostete wieder und wieder jede Mahlzeit vor, um ihm zu zeigen, dass keiner ihn vergiften wollte. Ich hatte es akzeptiert, ihm die einzige Wahrheit zu verheimlichen – dass er sich selbst umbrachte.
    Ich akzeptierte seine Schwäche, sein Selbstmitleid, seine flehentlichen Bitten, seine Respektlosigkeit, gefolgt von Wutausbrüchen, die ihm aber immerhin wieder die ersten Worte über die Lippen trieben. Er war so schwach, dass er nicht mit seinem Geist mithalten konnte – und dass er mit ansehen musste, wie dieser sich auflöste, schwächte ihn noch mehr. Er, das Skalpell, das perfekte Werkzeug, hatte Angst, ein stumpfes Messer zu werden. Er war ein wundervolles, aber fragiles Präzisionsinstrument. Ich schmierte das Getriebe, so gut ich konnte, dennoch weigerte sich die Maschine, zu funktionieren. Mit dreißig Jahren war Kurt in seiner Seele ein Greis. Er sagte: „Mathematisches Genie ist eine Sache der Jugend.“ Hatte er seine Glanzzeit bereits überschritten? Das war die eigentliche Frage. Dem Mittelmaß zog er das Schweigen vor. Darauf wusste ich keine Antwort, dagegen hatte ich kein Heilmittel, es sei denn die Wahl zwischen zwei Übeln: Ich brachte ihm seine Notizbücher. Ich weinte deswegen, ich verabscheute mich selbst. Aber ich sah keinen anderen Ausweg. Ich musste dem Süchtigen sein Opium besorgen, um ihm Erleichterung zu verschaffen und ihn gleichzeitig unter Drogen zu setzen. Ich war wie Doktor Wagner-Jauregg, der den Psychotikern Malaria impfte, um sie aus ihrer Starre zu holen. Er trieb den Teufel mit dem Beelzebub aus. Was hätte er ihm nicht alles angetan, wenn ich diese Entscheidung nicht getroffen hätte? Hätte er ihm Elektroschocks versetzt? Hätte er Kurt endgültig in einer Irrenanstalt weggesperrt? So oft hatte ich gehört, dass Mathematik in den Wahnsinn führte. Als wäre es so einfach! Die Mathematik hatte meinen Mann nicht verrückt gemacht – sie hat ihn vor sich selbst gerettet und ihn umgebracht.
     
    Bevor ich in sein Zimmer hinaufging, nahm ich die Zeitung wieder aus dem Papierkorb und schnitt die Vermischten Nachrichten aus. Zwischen zwei erzwungenen Löffeln Brei hätte ich Stoff für eine Ablenkung.
    Ein Weißkittel mit grau melierten Schläfen saß auf Kurts

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