Die Göttin der kleinen Siege
sein Bett!“
Ich weiß nicht, was sie mehr schockierte – dass ich sie beim Vornamen nannte, dass ich den Dünkel hatte, mich auf ihr Niveau zu heben oder dass ich diese Worte aussprach. Doch, ja, ich weiß: Wir stammten aus einer Zeit, in der man seine Schuhe passend zur Handtasche wählte und mit Hut und Handschuhen ausging. Ich hatte das Wahlrecht, aber in ihren Augen hatte ich kein Recht, zu leben.
„Ihre Vulgarität erstaunt mich nicht, schließlich sind Sie eine geschiedene Frau, Tänzerin in einem billigen Tingeltangel. Außerhalb seiner Arbeit hatte Kurt schon immer einen bescheidenen Geschmack.“
„Sie vergessen seine Vorliebe für Frauen, die älter sind als er, gnädige Frau. Sicherlich hängt er nicht von ungefähr so an Ihnen!“
Sie blickte mich undurchdringlich an. Ich sah die Löwin unter dem Lodenmantel, bereit, mich in Stücke zu reißen.
„Es wird keine Kinder geben, nicht wahr? Er würde keine ertragen. Aber für Sie ist es ja sowieso schon zu spät.“
Auf meinen zu hohen Absätzen hätte ich fast das Gleichgewicht verloren.
„Werden Sie bei der Hochzeit dabei sein?“
„Ihr Strumpf hat eine Laufmasche. Kurt achtet sehr auf solche Details.“
Sie ging an mir vorbei, sie schenkte mir nicht einmal ein Siegerlächeln. Kein einziges Mal hatte sie mich mit meinem Vornamen angesprochen. Wir entsprachen vollkommen dem Klischee. Eine Frau und ihre Schwiegermutter sind wie zwei Gelehrte, die sich darum streiten, wer die Entdeckung als Erster gemacht hat. Aber egal, wer vorne lag, auch sie war von einer Frau geboren worden, die wiederum die Frucht einer anderen Gebärmutter war. Wir waren wie die beiden Seiten einer Medaille: Sie hatte Kurt auf die Welt gebracht, ich würde ihn zweifellos sterben sehen.
Ich hätte sie gern mit in die Straße mit dem schönen Namen genommen, wo wir wohnten, die Himmelstraße, hätte ihr gern die Tür unseres Heims geöffnet, aber sie ging gleich wieder, sobald die „Angelegenheit“ geregelt war. Vielleicht hätte ich den Kopf senken, hätte auch Gehorsam leisten sollen. Ein gemeinsames Leben verdiente mehr als einen heimlichen Pakt, den man auf einem Friedhof schloss. Aber ich war müde von all dem Ungesagten und dem falschen Schein. In diesem Spiel, für das Marianne eine perfekte Erziehung genossen hatte, war ich schon immer schlecht gewesen.
Zum Trost ging ich zu dem Engel auf meinem Lieblingsgrab. Die Statue hatte Menschengröße. Davor hatten Kurt und ich einmal eine absurde Diskussion geführt: Haben Engel eine Körpergröße? Dieser hier saß betend da, efeuumrankt, und wachte über die letzte Ruhe einer unbekannten Familie. Bei unseren Sonntagsspaziergängen grüßten wir ihn immer. Auch Kurt mochte Engel.
19.
Adele räumte die Fotos wieder sorgfältig ein und beobachtete aus dem Augenwinkel die junge Frau, die sich einfach nicht zum Gehen entschließen konnte. Ihr Besuch hatte etwas von einem letzten Mal an sich, das Anna nicht akzeptieren konnte.
„Wollen wir einen Tee trinken gehen, Adele?“
„Es ist zu spät, es gibt nichts mehr. Alle sind mit der großen jährlichen Maskerade beschäftigt.“
„Sie mögen Halloween nicht?“
„Ich verabscheue aufgesetzte Freude.“
„Aber Alkohol mögen Sie.“
Anna schob eine Strähne zurück, die an ihrer Schläfe baumelte. Sie müsste mal wieder ausgiebig die Haare waschen. Nach dem Regen am Nachmittag rochen ihre Kleider wie ein alter Hund. Sie war kurz davor, sich auf den Boden zu legen und zu schlafen. Sie zog ihren Pferdeschwanz gerade. Der Schmerz an der Kopfhaut gab ihr Mut: Sie musste verhindern, dass Adele wieder sauer auf sie wurde. Offenheit schien der beste Weg zu sein.
„Ich kann Thanksgiving nicht mit Ihnen feiern, Adele.“
„Ich stehe nicht am Fenster und lauere auf Ihre Rückkehr, meine Hübsche.“
Sie malträtierte einen Knopf an ihrer großmaschigen Strickjacke. Anna ließ ihr kurz Zeit, um sich innerlich zu sammeln. Sie spürte einen Stich im Herzen – wo war das fesche Fräulein von der Fotografie geblieben? Ihr Mitleid umfasste die alte Dame genauso wie die alte Frau, die sie, mit ein bisschen Pech, selbst eines Tages sein würde. Noch konnte sie sich den Luxus jugendlicher Illusionen erlauben: besser sterben, als alt werden.
„Ich bin manchmal ein bisschen schroff“, sagte Adele.
„Danke für die Fotos, diese Aufmerksamkeit hat mich angerührt.“
„Ich war sicher, dass sie Ihnen gefallen würden. Man kann Sie mit wenig glücklich machen,
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