Die Göttin der kleinen Siege
weder Juden noch Kommunisten. Wir haben nichts zu befürchten.“
„Alle sollten sich vor den Deutschen fürchten! Wie kann ich zulassen, dass mein Sohn den Nazis den Treueid schwört und eine Bande Barbaren unterrichtet? Alle seine jüdischen Freunde haben Wien verlassen. Ohne sie bringt er nichts Gutes mehr zustande. Kein Wissenschaftler und auch kein Künstler, der dieses Namens würdig ist, wird sich den Nationalsozialisten unterwerfen. Für mich ist Wien bereits gestorben.“
„Und was hätte ich davon? Vor Ihrem Brief habe ich für Sie doch gar nicht existiert.“
„Kurt hasst Bigotterie. Er ist schwach, er wird Sie nicht ohne meine Zustimmung heiraten. Sie sind nicht mehr die Jüngste, und ich kann noch sehr lange leben.“
Ich schluckte die Kränkung, ohne zu murren.
„Sie wollen mich also als Krankenschwester einstellen?“
„Gewissermaßen. Sie werden in Ehren und regelmäßig bezahlt.“
„Ehre ist ein Wort, das ich zu vergessen beschlossen habe. Und was die Regelmäßigkeit angeht – Kurt ist labil, das wissen Sie ganz genau.“
„Das ist die Kehrseite seiner Begabung, Fräulein. Sie scheinen sich nicht im Klaren darüber zu sein, welches Glück Sie haben. Mein Sohn ist ein außergewöhnlicher Mensch. Schon sehr früh haben wir bei ihm seinen aufkeimenden Genius entdeckt.“
Dies war der Beginn der ach so erwarteten Laudes. Der Glockenturm stimmte mir mit ein paar adäquaten Schlägen zu.
„Kennen Sie den Unterschied zwischen einem begabten Menschen und einem Genie? Es ist Arbeit, Fräulein, viel Arbeit. Kurt braucht innere Ruhe, um sein Schicksal zu erfüllen. Bislang haben Sie seine universitäre Karriere gebremst. Das muss sich ändern.“
„Das stimmt nicht!“
Sie verzog nur ihren verbitterten Mund.
„Ich möchte Ihnen einige Empfehlungen geben. Hören Sie sie sich bis zum Schluss an, ohne mich zu unterbrechen, wenn Ihnen das möglich ist.“
Ich zog meine Handschuhe zurecht, um meine Finger zu bändigen, die am liebsten zugeschlagen hätten. Kurt war es jedoch wert, dass ich eine zusätzliche kleine Demütigung einsteckte.
„Kurt wird von einer nicht enden wollenden Fragestellung getrieben. Als Kind nannten wir ihn den ‚Herrn Warum‘. Im Alltag müssen Sie demnach ‚Frau Wie bitte‘ sein, denn sein Warum betrifft Bereiche, die Ihren Horizont übersteigen.“
„Den Ihren nicht?“
Sie hob den Kopf – höher als es die Gesetze der Anatomie erlaubten.
„Das ist nicht die Frage. Sie müssen alle Alltagsprobleme von ihm fernhalten, damit er sich seiner Berufung widmen kann. Sie müssen wissen, dass Kurts Konzentration ein zweischneidiges Schwert ist. Wenn ihn etwas fesselt, dann brennt er lichterloh. Lassen Sie ihn niemals Auto fahren. Er lebt in seiner eigenen Welt, er ist zerstreut und er ist eine Gefahr.“
Ich ahmte ihre aufrechte Haltung nach – gerader Rücken, die Hände im Schoß gefaltet, das Täschchen vor sich wie einen Schild.
„Bestärken Sie ihn, dulden Sie seine Schrullen, aber achten Sie immer auf die Zeichen und sorgen Sie rechtzeitig für eine Behandlung. Vergessen Sie vor allem nicht, ihn zu loben, auch wenn Sie nichts von allem verstehen. Manche Männer haben ein so unersättliches Ego, dass sie zu dessen Befriedigung selbst noch die Komplimente eines Dummkopfs brauchen.“
„Wie steht es mit seiner Leibspeise und dem Seidenschal im Winter?“
Sie drückte die Nasenlöcher zusammen.
„Lange Zeit dachte ich, Sie würden seine Karriere hintertreiben. Sie bringen sie zwar nicht vorwärts, aber zumindest haben Sie ihm das Überleben ermöglicht. Das muss ich Ihnen zugestehen, Sie sind ein unsinkbares Schiff.“
„Für Anerkennung ist es nie zu spät.“
„Sicherlich bedeuten Sie ihm in seiner … Schwäche nicht umsonst etwas. Er braucht Ruhe. Wie man mir gesagt hat, sind Sie eine umtriebige Person. Beschränken Sie sich darauf, ihn zu ernähren, zu beschützen und ihn nicht mit zweifelhaften Krankheiten anzustecken.“
In Sachen Selbstbeherrschung war sie mir ein ganzes Leben voraus. Ich drohte ihr mit meiner Tasche.
„Beleidigen Sie mich nicht! Ich könnte Ihnen eine Menge über die Unzulänglichkeiten Ihres kleinen Hochbegabten erzählen!“
„Kurt wird ewig ein Kind sein. Seine Intelligenz wird ihn unglücklich, einsam und arm machen. Ich als Mutter muss für seine Zukunft sorgen.“
„Wollen Sie einen Ersatz für sich selbst finden? Sie vergessen dabei aber etwas, Marianne.“
Ich schob mein Gesicht vor ihres.
„Ich wärme
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