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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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der Begleiterin konnte man die Liste der Vorwürfe lesen, die sie auf der Fahrt mit Blick in den Rückspiegel herunterleiern würde. Der Empfangstresen war von grellbunten Girlanden entstellt, die Nachtschwester machte ein unleidliches Gesicht. Man musste die zeitweiligen Geister von Halloween nicht zu Hilfe holen – jeder hatte ohnehin seine eigene Eskorte.

20.
1938
Das Wahljahr
    „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen
Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich
einverstanden und stimmst Du für die Liste
unseres Führers Adolf Hitler?“
Stimmzettel zur nachträglichen Volksabstimmung
am 10. April 1938
     
     
    Wie immer öffnete ich die Fenster auf einen grau verhangenen Morgenhimmel. Von ferne hörte ich die Rufe der Weinleser. Trällernd zündete ich den Ofen an, bereitete Kurts Frühstück zu – eine Tasse Tee, eine Scheibe Schwarzbrot – und deckte den Tisch streng nach dem Protokoll. Alles musste perfekt sein. Ich erlaubte mir, mit dem Zwetschkenmus eine liegende Acht zu zeichnen, und hoffte, er würde sich deswegen nicht ereifern. Ich zwang mich ein wenig zur Freude, schließlich würde ich heute heiraten – was ich mir seit Jahren wünschte. Ich goss mir Tee ein, um mein Schwindelgefühl zu unterdrücken. Ich polierte Kurts Schuhe, bügelte sorgfältig seine Kleider, bevor ich sie fein säuberlich gefaltet über einen Stuhl hängte. Die Gewohnheiten meines Mannes erwiesen sich ohne sein Beisein manchmal als mächtiger.
    Ich hatte mir nicht gestattet, von einer großen Zeremonie zu träumen – ich hatte ja schon einmal in Weiß geheiratet. Doch diese Hochzeit im kleinen Kreis, die man wie eine lästige Formalität hinter sich bringen wollte, hatte einen leichten Anflug von Traurigkeit. Als ich durch die Diele ging, sah ich eine müde Frau im Spiegel. War das die junge Verlobte? Ich nahm die Haarklipse heraus und bauschte mein Haar auf. „Komm schon, Mädel, schätze dich glücklich und mach ein fröhliches Gesicht! Nutze den Augenblick, Frau Gödel!“, sagte ich mir. Ich zog mich an, dann ging ich Kurt mit einem Kuss wecken.
    Er hatte mir einen Blankoschein für unsere Hochzeit ausgestellt. An solche Freiheiten war ich gewöhnt: „Kümmere dich um alles.“ Ich war die Verwaltung und würde es auch bleiben. Kurt war mit der Vorbereitung seiner Vortragsreihe an der katholischen University of Notre Dame in Indiana beschäftigt. Entgegen allen Erwartungen hatte die Universität Wien ihn nach einem Jahr der Lehre freigestellt, so konnte er die Einladung seines Freundes Karl Menger nach Notre Dame und die Abraham Flexners nach Princeton annehmen. Seine Abreise war trotz der Unsicherheiten in dieser chaotischen Zeit seit Januar geplant. Kurt schien deswegen nicht beunruhigt zu sein. Nach ein paar Monaten in konzentrierter und freudiger Hochstimmung, weil er wieder voll arbeitsfähig war, brannte er darauf, Österreich zu verlassen.
    Die übereilte Entscheidung zur Heirat hatte selbst meine Familie und die wenigen engen Freunde überrascht, die über unsere Verbindung Bescheid wussten. Die „Festlichkeiten“ würden unser Budget nicht belasten; nach der standesamtlichen Trauung sollte es ein schlichtes Essen mit meinen Eltern, meinen Schwestern und Bruder Rudolf geben. Trauzeugen wären Karl Gödel, ein Cousin von Kurts Vater, und unser Freund Hermann Lortzing, ein Buchhalter. Gewisse Abwesenheiten sind demütigender als offene Feindseligkeit: Kurts Mutter hatte die Einladung abgelehnt. Und seine engsten Kollegen hatten Europa größtenteils verlassen.
    Wir fuhren mit der Straßenbahn und trafen unsere Gäste vor dem Rathaus. Das Mittagessen war im Rathauskeller direkt im Haus bestellt, unweit der Universität und der Kaffeehäuser, in denen Kurt so viele Stunden verbracht hatte. Kurt mochte solche „Details“: Er würde aus dem Stand eines ledigen Studenten in den eines verheirateten Mannes treten, und dies würde im selben geografischen Umkreis geschehen, ohne dass er von seinen Gewohnheiten abweichen müsste. Doch die vertraute Umgebung hatte sich verändert – die Fassaden waren in den Farben der Nazis beflaggt. Die Lederstiefel, die unablässig durch die altehrwürdigen Gebäude trampelten, hatten die meisten seiner Gefährten in die Flucht geschlagen. Mir wurde nun klar, dass wir uns an ein untergegangenes Wien klammerten. Aber bis wir beide es wirklich begriffen hätten, bräuchte es noch eine Weile.
    Gefolgt von unserer kümmerlichen Hochzeitsgesellschaft, stiegen wir die

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