Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
Mädchen!“
    „Ich mag diese Feste auch nicht. Zu viel Essen, zu viel Familie.“
    „Ich erinnere mich an unser erstes Thanksgiving in Princeton. Wir waren beim Institutsdirektor in ein wundervolles Haus eingeladen. Ich konnte dem Gespräch nicht folgen. Damals konnte ich gerade mal ein paar Worte Englisch stottern. Ich war fasziniert von der Üppigkeit der Tafel. So etwas hatte ich nicht mehr gesehen seit …? Nein, so etwas hatten wir überhaupt noch nie gesehen. Feiern Sie mit Ihrer Familie?“
    „Der Direktor hat mich eingeladen.“
    „Da haben Sie aber Glück!“
    „Es war eher ein Befehl.“
    Anna bog mit dem Finger zwei Lamellen der Jalousie auseinander. Die Straßenlampen warfen ein schönes, warmes Licht auf die Pfützen von Nachmittag. Eine Reihe dunkler Schatten überquerte im Zickzack den Parkplatz. Die fatale Dinnerparty kam immer näher, und Anna hatte noch keine akzeptable Entschuldigung gefunden, um einem Zusammentreffen mit Leonard aus dem Weg zu gehen. Höchstwahrscheinlich würde er kommen. Er hatte sich noch nie eine Gelegenheit entgehen lassen, ein Fest auf Olden Manor zu verderben.
    „Seit ich hier in Pine Run bin, hasse ich Thanksgiving. Man hat nur zwei Möglichkeiten: Entweder man empfängt schlecht erzogene Kinder, deren Eltern wundersamerweise die Adresse des Heims herausgefunden haben, oder man bleibt für sich und schmollt in seiner Ecke.“
    Anna fragte Adele nicht, ob sie Besuch erwartete. Das Gästebuch hatte ihr Einblick in Adeles Einsamkeit gewährt. Anna verließ ihren Beobachtungsposten.
    „Ich dachte, Sie mögen Kinder.“
    „Ich bin zu alt, um noch so zu tun, als ob. Die Alten hier behelligen mich mit Fotos ihrer Nachkommenschaft. Oder sie wedeln mit einer armseligen Postkarte herum, als wäre es eine göttliche Offenbarung. Sie sind alle so erbärmlich! Nehmen Sie Gladys – ihrer Ansicht nach ist ihr Sohn eine Kreuzung aus Superman und Dean Martin. Was glauben Sie, warum sie sich immer so herausputzt? Nicht um sich einen neuen altersschwachen Kerl zu angeln, egal, was sie sagt. Nein, sie hält sich bereit für einen Besuch, der ständig aufgeschoben wird. Besser, man hat gar keine Kinder, als sich von deren Undank kränken lassen zu müssen!“
    „Meine Mutter Rachel behauptet, die Mutterschaft sei so etwas wie das Stockholm-Syndrom. Die Eltern lieben ihre Kinder unweigerlich, auch wenn diese sie in Geiselhaft nehmen.“
    „Sie hat einen speziellen Humor.“
    „Ich bin mir nicht so sicher, ob sie es als Scherz meint.“
    „Seien Sie nachsichtiger. Sie dürfen sich glücklich schätzen, eine Familie zu haben.“
    Anna lächelte – Nachsicht war ihr schlimmster Fehler. Als Jugendliche hatte sie versäumt, so richtig auf den Putz zu hauen, sie wollte die bereits explosive Scheidung nicht noch anheizen. Als Erwachsene hasste sie ihre Eltern nicht so sehr, wie sie es gewollt hätte. Sie liebte sie, wie sie selbst gern hätte geliebt werden wollen: beständig und ohne erpresst zu werden. Sie war überzeugt, dass ihre Eltern die Liebesbeweise für ihre alten Tage aufsparten. Kurz vor dem Ende hätten sie bestimmt das unwiderstehliche Bedürfnis, ihre Tochter endlich anzufassen. Bei ihren Treffen kamen sie immer zu spät.
    „Die Familie ist auch ein Gift.“
    „Vor allem in Ihren Kreisen.“
    Anna versteifte sich – Adeles Anspielung auf ihre jüdischen Wurzeln hatte alle Alarmglocken schrillen lassen.
    „Kann ich denn nicht von Ihrer Familie sprechen, ohne als Nazi zu gelten?“
    „Ich mag Ihre Vorurteile nicht.“
    „Das ist kein Vorurteil. Jüdische Familien sind ein wenig erdrückend. Ich hatte viele jüdische Freunde. Der Großteil der Universitätsgemeinde in Princeton war vor dem Krieg geflohen.“
    Anna wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger, sie hätte sie fast in den Mund genommen, aber sie gehorchte der mütterlichen Ermahnung, die fest in ihrem Unterbewusstsein verankert war: „Iss deine Haare nicht! Man hält dich ja für zurückgeblieben!“
    „Ist es Ihnen peinlich? Das muss es nicht. Ich bin nicht blöd, diese Frage quält Sie schon von Anfang an. Ich kann Ihre Gedanken lesen: Die Gödel hat nicht gerade einen sauberen Hintergrund als gute österreichische Katholikin. Irre ich mich?“
    Nachdem Anna die Strähne losgelassen hatte, biss sie sich jetzt auf die Lippen. Ihre Kindheit war überschattet gewesen von dieser Geschichte, über die man nie gesprochen hatte, die aber immer allgegenwärtig gewesen war.
    „Ist ein Mitglied Ihrer Familie im

Weitere Kostenlose Bücher