Die Göttin der kleinen Siege
KZ umgekommen?“
Anna verdrängte eine schmerzhafte Woge der Nostalgie: Oma Josepha und ihre Fotogalerie der verschwundenen Lieben. Silberrahmen mit Trauerflor. Ihre „Klagemauer“, wie ihr Sohn sie immer gehänselt hatte. Staub von aufeinandergestapelten Büchern, Wärme, die dreimal versperrte Tür, Apfelstrudel, Geschrammel bei der Geigenstunde und Abzählreime auf Deutsch – Annas Erinnerungen waren ein unverdaulicher Brei.
„Väterlicherseits. Zwei Onkel meines Vaters konnten Deutschland nicht mehr verlassen. Und noch viele andere, aber weniger nahe Verwandte.“
In einer Geste der Ohnmacht hob Adele die Hände. Anna war bereit, zuzuhören – nicht unbedingt zu verzeihen –, aber die Lockerheit, die die ältere Frau an den Tag legte, brannte wie eine Ohrfeige im Gesicht ihrer persönlichen Geschichte.
„Haben Sie 1938 in Wien denn nichts kommen sehen? Hat Sie das alles nicht empört?“
„Damals hatte ich meine eigenen Probleme.“
„Wie war es möglich, dass niemand etwas unternommen hat? Es gab Massenverhaftungen, Massaker!“
„Wollen Sie Entschuldigungen hören? Scham? Ich kann nicht mehr in der Zeit zurückgehen. Ich verleugne mich nicht, so wie ich damals war und wie ich noch immer bin. Ich war nicht mutig. Ich habe meinen Mann gerettet, mein Leben gerettet. Mehr nicht.“
Anna beherrschte sich, etwas zu entgegnen. Sie brauchte es so sehr, Adele zu bewundern, in ihr eine höhere Weisheit zu finden, die Frucht eines außergewöhnlichen Schicksals. Keiner entkam der Glockenkurve, dem Gaußschen Fluch: Die mittelmäßige Wahrheit trübte Annas Blick. Sie hätte es vorgezogen, Adele zu hassen.
„Urteilen Sie nicht über mich. Sie können nicht wissen, wie Sie reagiert hätten, wenn Sie mit dem Rücken zur Wand gestanden wären. Vielleicht wären Sie eine Heldin gewesen, vielleicht aber auch nicht.“
„Ich kenne diese Argumente, sie besänftigen mich nicht.“
„Auch ich habe in diesem Krieg Verwandte verloren.“
Das war für Anna keine Entschuldigung, nicht so etwas!
„Warum sollte ich mich schuldiger gemacht haben als Kurt? Er hat auch nicht anders gehandelt. Hat ihm seine Intelligenz einen Freibrief gegeben, die Augen zu schließen?“
„Sie verstecken sich hinter ihm.“
„Hätten Sie seine Korrespondenz gelesen, wüssten Sie, wie blind er war. Es hat seinen Freund Morgenstern zum Lachen gebracht – sicherlich nur, damit es ihn nicht schauderte! Kurt war nur mit sich selbst beschäftigt.“
„War Ihr Mann ein Feigling?“
„Nein, er hatte einfach die große Fähigkeit, alles zu ignorieren. Er war in keiner Weise konfliktfähig. Selbst wenn ich etwas hätte tun wollen, selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, meine Erziehung und auch meine Angst abzuschütteln – ich hätte ihn nicht zwingen können, dem Leben ins Gesicht zu blicken. Es hat ihm genügt, den Geist von Purkersdorf heraufzubeschwören.“
„Er hat seine Depressionen als Rechtfertigung benutzt?“
„Wie ein Bollwerk gegen die Wirklichkeit. Manchmal.“
„Und Sie haben mitgezogen?“
„Sie verlangen, dass ich dümmer und gleichzeitig scharfsinniger sei als er. Alles, was er nicht war.“
„Ich verlange gar nichts von Ihnen.“
„Sie brauchen eine nette, kleine, leicht irre Alte, die ihre Weisheiten zwischen zwei Gläsern Sherry absondert. Diese Person bin ich nicht, mein liebes Mädchen. Ich bin wie Sie – eine Frau, die Verzicht geleistet hat. Sie erkennen sich nur nicht in mir, weil Ihre Selbstaufgabe ganz jung ist. Diese Leichtigkeit wird Sie im Nachhinein belasten.“
„Sie täuschen sich in mir. Ich bin alles andere als locker. Und wenn ich mich wirklich aufgegeben hätte, wäre ich nicht hier.“
Adele packte Annas Handgelenk, ohne dass diese den Nerv gehabt hätte, sich ihr zu entziehen. Sie spürte noch das Leben in dieser dicken, altersfleckigen Hand pulsieren. Sie zögerte kurz, umarmte die alte Dame aber dann doch nicht. Sie hatte keine Vergebung anzubieten. Dazu hatte sie weder das Recht noch die Lust. Ihre wacklige gegenseitige Zuneigung hätte eine Parodie auf den Ablass nicht überlebt. Adele schien schon einzuschlummern, aber vielleicht tat sie ja auch nur so, um den Abschied zu vermeiden. Anna deckte sie sorgsam zu.
Bevor sie ging, ließ sie gemächlich die Jalousie herunter und löschte das Licht. Im Flur begegnete sie einem Paar erschöpfter Besucher. Der Mann hatte ein schlafendes Kind auf dem Arm, sein Mund war verschmiert von Süßigkeiten. Im verkniffenen Gesicht
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