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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Fahrkarte aufzutreiben. Sein Egoismus und seine Blindheit waren grenzenlos. Er wollte, dass ich mit ihm in die Vereinigten Staaten käme, weil er sich nicht imstande fühlte, das neue Studienjahr wie ein alter studentischer Junggeselle durchzustehen. Die einzige Möglichkeit, ein doppeltes Visum zu bekommen, war eine Heirat. Ich machte mir keine Illusionen: Der Lauf der Geschichte scherte ihn nicht, der Gedanke, seine Mutter in der Tschechoslowakei zurückzulassen, schreckte ihn nicht. Auch unsere prekäre finanzielle Lage kümmerte ihn wenig. Er hatte seine Arbeit, seine Bedürfnisse als Mann, der Rest war ihm so ziemlich egal. Was waren schon das Tosen der Welt und die Jeremiaden einer Frau gegen die mathematische Unendlichkeit? Kurt stand immer außerhalb des Spielfelds. Das Hier und Jetzt war eine unangenehme Position im Raum-Zeit-Kontinuum, ein Gebot der Stunde, dem ich Rechnung tragen musste, damit wir überlebten.
    Kurt spielte mit dem Gedanken, ganz offiziell auszuwandern, ernstlich aber beschäftigte er ihn nicht. Oskar Morgenstern und Karl Menger, die sich vor einigen Monaten in den USA niedergelassen hatten, hatten ihm geschrieben, dass sie damit rechneten, auch dort zu bleiben. Sie legten ihm nahe, ins Exil zu gehen. Ich dachte darüber nach. Wenn er mich heiratete, war die Einladung nach Princeton eine Chance, heimlich abzuhauen und alles hinter uns zu lassen. Ich machte zwei Listen: Auf der einen Seite, hier in Europa, waren meine Familie, seine Mutter – die in Brünn in einem Land festsaß, das in völliger Auflösung begriffen war –, seine akademische Karriere, die so gut wie gesichert war, die Universität, die noch immer Vertrauen in ihn setzte, sein Bruder, der einzige Garant unserer Mittel, und freilich eine explosive politische Lage, über die wir uns aber nicht wirklich Sorgen machen müssten. Drüben in den USA waren seine Freunde, die Gastdozenturen, das Unbekannte. Bekämen wir beide ein Visum? Wie sollten wir von seinen mageren Bezügen leben? Wie würde meine Zukunft in diesem fernen Land aussehen, dessen Sprache ich nicht sprach, wo ich allein wäre und den Launen von Kurts Gesundheit ausgesetzt? Wenige Wochen vor der Trauung neigte sich die Waage, als ich anfing, mich morgens heimlich zu erbrechen. Ich würde ohne ihn in Wien bleiben.
    Ich war Geliebte, Vertraute, Krankenschwester gewesen, ich hatte in Grinzing die Einsamkeit eines Lebens zu zweit kennengelernt. Kurts Manien beschränkten sich nicht darauf, einen Löffel Zucker hundertmal abzumessen – sie bestimmten jede seiner Bewegungen. Ich musste einräumen, dass er seine Obsessionen nicht in einem Zimmer in Purkersdorf gelassen hatte, sie lebten immer mit uns zusammen. Sein Egoismus war nicht die Folge seiner schwachen Gesundheit, sondern grundlegender Bestandteil seines Wesens. Hatte er schon einmal an jemand anderen außer sich selbst gedacht? Ich verheimlichte meinen Zustand – zehn Jahre Geduld wogen eine kleine Lüge durch Auslassung ohne Weiteres auf.
     
    Ich hatte meinen Vater gebeten, am Tag meiner Trauung nicht über Politik zu sprechen. Doch nach ein paar Gläsern bei Tisch konnte er nicht mehr an sich halten. Meine Finger krampften sich um die Serviette, als er mit dem Messer an sein Glas schlug, Stille einforderte und mit brüchiger Stimme feierlich einen Toast ausbrachte:
    „Auf die Eheleute, auf unsere tschechischen Freunde und auf einen endlich dauerhaften Frieden in Europa!“
    Ich sah, wie Rudolf, unser tschechischer „Freund“, die Stirn runzelte und sich einer schneidenden Entgegnung enthielt.
    Kurz nach dem „Anschluss“ hatte Hitler verkündet, dass er eine weitere Unterdrückung der Sudetendeutschen durch die Tschechoslowakei nicht dulden und sie befreien werde. Die gewaltsamen Ausschreitungen der letzten Tage waren sicherlich von den Nazis selbst geschürt worden. Rudolf war überzeugt, dass unmittelbar ein Einmarsch bevorstand, den Daladier und Chamberlain nicht zu verhindern wagen würden. Eine Woche nach unserer Hochzeit sollte das Münchner Abkommen ihm recht geben.
    Kurt war für derartige Spannungen unempfänglich, er erhob sich selbst zu seinem Toast:
    „Auf meine geliebte Frau! Auf unsere Hochzeitsreise nach Amerika!“
    Ich schenkte ihm mein strahlendstes Lächeln. In seiner Vorstellung würde Princeton demnächst die Mittel für eine zweite Fahrkarte freigeben, obwohl wir dem Institut unsere Hochzeit erst spät mitgeteilt hatten. Ich zweifelte sehr daran, aber ich schützte Kurt in

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