Die Göttin der kleinen Siege
mich, wenn es etwas Neues gibt?“
„Ich werde es weitergeben. Sie sind hier gerngesehen. Es ist selten, dass ein junger Mensch sich mit einem unserer Senioren abgibt.“
Anna ging wie in Trance weg. Sie kannte zwar Adeles Gesundheitszustand, aber sie hatte immer so gewirkt, als besitze sie grenzenlose Vitalität. Ein so jähes Ende akzeptierte Anna nicht. Sie hatte die alte Dame nach bitteren Worten verlassen, sie hatte sie aufgebracht und fühlte sich nun für Adeles plötzliche Schwäche verantwortlich.
Sie hatte nicht die Kraft, sich gleich auf den Rückweg zu machen. Sie ließ sich in einen Kunstledersessel fallen. Ein Stückchen entfernt saß eine Frau um die sechzig und strickte. Die Besucherin mit der Fönfrisur sah Anna mit einem breiten Lächeln an. Sie hatte ein hartes Gesicht, aber ihre braunen Augen unter den schweren Lidern strahlten eine unverkennbare Warmherzigkeit aus. Anna konnte nicht beurteilen, ob diese Freundlichkeit ihr galt oder der ganzen Welt und ob sie nun davon profitierte.
Die Frau hörte auf, mit den Nadeln zu klappern, und steckte ihr Strickzeug in eine Patchwork-Tasche. Dann setzte sie sich neben Anna und drückte ihr fest die Hand.
„Elizabeth Glinka.“
„Anna Roth. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, auch wenn die Umstände …“
„Keine Sorge! Missis Gödel hat schon anderes überstanden.“
Sie beugte sich vor und musterte schamlos die junge Frau, die sich aufrecht hinsetzte.
„Darf ich Anna zu Ihnen sagen? Adele hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie hat recht – Sie sind hübsch und wissen es nicht.“
„Genau solche Komplimente macht sie mir immer.“
Elizabeth legte ihre schwielige Hand auf Annas Hand.
„Was Sie für Adele tun, ist gut.“
Anna verspürte einen Stich der Schuld. Ihre Beziehung war noch immer etwas undurchsichtig. Anna konnte nicht genau sagen, wo ihr berufliches Interesse aufhörte und ihre Zuneigung begann. Vielleicht hatte Adele sich bei ihrer ehemaligen Krankenschwester über ihr letztes Gespräch beklagt.
„Anfangs war ich mit einer speziellen Aufgabe hergekommen.“
„Aber Sie sind immer wieder gekommen.“
„Wissen Sie, wie es ihr geht?“
„Sie hatte heute Nacht einen kleinen Infarkt. Es ist nicht der erste. Seit dem Tod ihres Mannes lässt sie sich gehen. Es ist vorbei, sie hat keine Lebenslust mehr.“
„Wie lange kennen Sie sie?“
„Vollzeit habe ich ab 1973 bei den Gödels gearbeitet. Ihr Gärtner war ein Freund von mir, und so führte eins zum anderen …“
Die Realität drückte Annas verrostete Ventile auf, die Tränen waren nicht mehr zu halten und stiegen ihr in die Augen. Es fiel ihr leichter, vor einer fremden älteren Dame zu weinen, als ihren Mut zusammenzunehmen und sich endgültig von ihrer eigenen Großmutter zu verabschieden. Elizabeth zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und reichte es Anna.
„Adele hasst Tränen. Stellen Sie sich vor, was sie sagen würde, wenn sie Sie so sehen würde.“
Anna putzte sich die Nase und versuchte zu lächeln.
„Das Ende ist nah, aber heute kommt es noch nicht.“
Anna glaubte ihr in ihrer rücksichtslosen Offenheit. Die Krankenschwester wäre nicht so grausam, sie anzulügen, um sie zu beruhigen.
„Ich mag sie sehr. Ich wünsche ihr, dass sie sanft gehen darf – im Schlaf. Ohne zu leiden. Das hat sie auf jeden Fall verdient. Auch wenn sie es mir nicht immer leicht gemacht hat. Sie hatte auch ihre schlechten Momente. Das haben Sie sicherlich schon bemerkt.“
Anna schauderte, als sie hörte, wie Elizabeth in der Vergangenheitsform sprach, aber sie konnte nicht umhin, das Gespräch auf den Gegenstand ihrer Aufgabe zu lenken. Sie rügte sich selbst für diesen Mangel an Mitgefühl.
„Haben Sie mit Mister Gödel gesprochen?“
„Er war nicht gerade gesprächig. Aber ein netter Mann, außer wenn er delirierte …“
Elizabeth Glinka taxierte Anna aus den Augenwinkeln. Sie hatte nur Skrupel aus Prinzip – auch sie musste jemandem ihr Herz ausschütten.
„Es war ja kein Staatsgeheimnis, dass Mister Gödel ein sehr spezieller Mensch war. Adele musste ihn ständig im Auge behalten. Als ich eingestellt wurde, um ihr zu helfen, war sie am Ende mit ihren Kräften. Sie war sehr dick geworden und litt unter den Nachwirkungen ihres ersten Herzinfarkts. Sie hatte ernsthafte Probleme mit ihrem Bluthochdruck und ihrer Arthritis. Ihre Gelenke waren geschwollen, weil sie eine Schleimbeutelentzündung hatte. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, sie konnte weder
Weitere Kostenlose Bücher