Die Göttin der kleinen Siege
Krieg erwachten wir mit einem schrecklichen Kater und versteckten unsere Scham in Geranientöpfen und Bohnerwachs. Bei der Ankündigung einer neuen Volksabstimmung, die die Nazis angeordnet hatten, sprangen Arbeiter und Bürger vor Freude vereint auf den Schoß des Onkels mit den langen Zähnen und den fummelnden Händen, aber mit einem gut gefüllten Geldbeutel.
Marianne Gödel hatte uns vergebens gewarnt, die vorausblickenden jüdischen Freunde hatten das Land verlassen. Ich war blind gewesen und liebte einen tauben Mann. Hätte ich meiner Panik nachgegeben, hätte ich Kurt in Abgründe der Angst mit hineingezogen. Meine Aufgabe war es, zu schlichten. Eine Minderheit schrie noch Zeter und Mordio, ich gehörte zur stillen Mehrheit. Wie soll man gegen den Strom der Geschichte schwimmen, wenn die eigene Bequemlichkeit oder die persönliche Hoffnung auf ein normales Leben nicht von diesem Strom abgetrieben wird?
Ich kann nicht leugnen, dass ich die zerschlagenen Schaufenster gesehen habe, die Familien, die im Rinnstein knieten, die misshandelten Alten, die Verhaftungen auf offener Straße. Ich war wie alle anderen, ich wurde hin und her geschleudert in einem Strudel, in dem man zuerst an sich selbst denkt, um nicht unterzugehen.
Ich fragte Anna, ob ich einen Fehler machte, wenn ich meinen künftigen Mann nicht nach Amerika begleitete. Sie zuckte nur mit den Schultern.
„Ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen, meine Liebe. Was sagt er denn, dein Mann?“
„Alle ziehen dorthin. Du solltest es dir auch überlegen, Anna.“
„Woher soll ich das Geld nehmen? Und wie soll ich meinen Sohn ernähren? Ich werde doch nicht in New York auf den Strich gehen, um vor diesen Bauerntrampeln zu flüchten. Nein, Amerika, das ist für die Vornehmen.“
„Auch dein Doktor Freud ist gegangen.“
„An Arbeit wird es uns jedenfalls nicht mangeln.“
„Marianne meint, dass die Nazis die Juden ausrotten wollen.“
„Dann musst du dir ja keine grauen Haare wachsen lassen. Du bist keine Jüdin. Und mach dir um mich keine Sorgen. Hier im Sanatorium werden sie mich nicht holen kommen. Bei Wagner-Jauregg hatte ich immer einen Stein im Brett. Und mein Junge ist bei guten Menschen, sie würden ihn nie denunzieren.“
Am 10. April 1938 waren die Stimmzettel für die Volksabstimmung mit zwei Kreisen versehen – einem großen für Ja und einem kleinen für Nein. Und als wäre das nicht genug, prüften die Nazibeamten vor jeder Wahlkabine, wo das Kreuz gemacht worden war. Die Zettel wurden weitergereicht. Das Deutsche Reich hatte sich in einer bereits gewonnenen Abstimmung eine erdrückende Mehrheit gesichert. Zu 99,75 Prozent stimmten die Österreicher mit Ja. Ich auch. Dann fuhr ich nach Hause und verschanzte mich in unserer Wohnung in Grinzing. Am Abend führte die Bekanntmachung der Wahlergebnisse zu nie gekannter Gewalt. Kurt arbeitete in seinem stillen Büro. Ich strich ihm über die Schulter, er erwachte aus seinem Traum und fragte mich:
„Hast du neuen Kaffee gefunden, Adele? Der von gestern war abscheulich.“
21.
Die Dame am Empfang machte Anna ein Zeichen, zu warten – den Telefonhörer hatte sie zwischen Schulter und Ohr geklemmt, hinter das andere hatte sie sich einen abgekauten Bleistift gesteckt. Anna nutzte die Zeit, um sich ins Gästebuch einzutragen. Verwundert sah sie, dass Adele Besuch hatte: Elizabeth Glinka, die ehemalige Krankenschwester im Haus der Gödels. Anna knabberte an einem Rest Nagel. Sollte sie sich einfach dazugesellen oder aus Höflichkeit verschwinden? Sie hätte diese Frau gern kennengelernt, die Zeugin der letzten gemeinsamen Jahre des Paares war.
„Tut mir leid, Miss Roth. Missis Gödel darf heute keinen Besuch bekommen.“
„Ich sehe aber, dass sie eine Besucherin hat.“
„Die Dame wartet im Foyer.“
„Ist Adele etwas zugestoßen?“
Die Telefonistin korrigierte die gefährliche Position ihrer Kaffeetasse und setzte eine mitfühlende Miene auf.
„Sie sind keine Verwandte. Ich darf Ihnen keine Informationen geben.“
„Adele Gödel hat keine Verwandten.“
Die Frau zog eine Grimasse. Aus Nikotinmangel malträtierten ihre Finger den ohnehin schon gemarterten Bleistift.
„Sie hatte eine schlechte Nacht. Der Bereitschaftsarzt war heute Morgen eher pessimistisch.“
Annas Herz raste.
„Ist sie bei Bewusstsein?“
„Sie ist sehr schwach. Am besten sollte man ihr jede Aufregung ersparen.“
„Ich lasse Ihnen meine Telefonnummer hier. Benachrichtigen Sie
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