Die Göttin der kleinen Siege
Rathaustreppen hinauf. Meine Familie, in übertriebenem Sonntagsstaat, war ein bisschen eingeschüchtert von Rudolfs großbürgerlicher Steifheit und schwieg.
Weder Anna noch Liesa hatte ich zu meiner Hochzeit eingeladen. Ich hätte gern die Meinung der rothaarigen Anna zu meinem blauen Samtmantel gehört, der schon einige Regengüsse erlebt hatte. Wir hätten zusammen den schlichten grauen Hut aussuchen können, mit einem Band an der Krempe, den ich mir angesichts unserer unsicheren finanziellen Verhältnisse als einzigen Luxus geleistet hatte. Von meiner Schwester hatte ich mir eine Brosche ausgeliehen. Von Liesa hätte ich die unwiderstehliche Stola borgen können, sie hatte mir Glück gebracht, bevor sie wie unsere Erinnerungen von den Motten zerfressen wurde. Doch meine Freundinnen waren die beiden Flanken meiner Biografie, für die in der Weltgeschichte zusammen kein Platz mehr war. Dass ich Liesa nicht eingeladen hatte, kam einem Verrat an meiner Jugend gleich, und dass Anna fehlte, stellte einen Verrat an meiner Dankbarkeit ihr gegenüber dar. Aber es war undenkbar, ja nachgerade gefährlich, meine jüdische Freundin und Liesa aufeinandertreffen zu lassen. Kurt und ich zogen es vor, mit dieser Eheschließung eine heikle Vergangenheit auszuradieren. Indem Kurt bereit war, mir seinen Namen zu geben, hatte er mir auch den schlimmsten Teil seiner selbst aufgeladen: seine Unfähigkeit, eine Wahl zu treffen in Anbetracht eines schwierigen Problems, sofern es sich in Fleisch und Blut ausdrückte, und nicht in mathematischen Symbolen. Anna machte sich nichts daraus, sie verstand es. Ich brachte ihr ein Stück Hochzeitstorte und Bonbons für ihren Sohn. Und Liesa sprach schon lange nicht mehr mit mir. Ich war „Frau Gödel“ und gehörte nun zu den „Großkopferten“.
Ich, Adele Thusnelda Porkert, ohne Beruf, Tochter von Joseph und Hildegarde Porkert, war nach zehn Jahren einer Beziehung in Schande binnen weniger Minuten mit Doktor Kurt Friedrich Gödel vermählt, Sohn von Rudolf und Marianne Gödel, geborene Handschuh. Ich zog meine weißen Handschuhe aus, um den Trauschein zu unterschreiben. Kurt nahm den Füllfederhalter und schenkte mir sein übliches betretenes Lächeln. Er küsste mich, vermied es aber, seinen Bruder anzusehen. Ich zog die Blume in seinem Knopfloch gerade. Ich war glücklich. Es war ein verschwindend kleiner Sieg, aber dennoch ein Sieg. Die Umstände spielten kaum eine Rolle – der alte Mantel oder die hinuntergeschluckten Fragen: Warum jetzt? Warum so schnell? Kurz vor seiner Abreise? Seine Mutter, die in Brünn geblieben war, füllte den viel zu großen Festsaal mit ihrer stummen Missbilligung. Marianne Gödel hatte ihre Zustimmung gegeben, nicht aber ihren Segen. Doch sie hatte eine gute Entschuldigung: Durch die Sudetenkrise war eine Reise problematisch. In gnädigeren Zeiten hätte sie sich jedoch genauso wenig von der Stelle bewegt. Und in gnädigeren Zeiten hätte Kurt mich auch nicht geheiratet.
Zwanzig Jahre später sollte ich auf dem blühenden Vorplatz einer Kirche in Princeton bei der Hochzeit einer strahlend glücklichen Fremden weinen. Nicht aus Neid auf ihr schneeweißes Kleid, auf ihre wohlhabende Familie, die sich dazu beglückwünschte, oder auf ihre Freundinnen, die in lavendelblauen Satin gehüllt waren – ich weinte um die gute Hoffnung, in der ich damals unter denselben Umständen gewesen war. Wie diese unbekannte Braut hatte auch ich der Tradition entsprechend etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes, etwas Blaues und eine Silbermünze im Schuh getragen. Und tatsächlich trug ich unter meinem blauen Mantel etwas ganz Neues, halb von mir, halb von ihm. Als er den Trauschein unterzeichnete, wusste er es noch nicht. Er wusste auch nicht, dass ich nicht mit ihm in die USA reisen würde. Wie hätte ich diese Hoffnung vernachlässigen können? In einen Zug einzusteigen, dann an Bord eines Schiffes zu gehen und zu riskieren, dieses Kind zu verlieren, das, mit meinen neununddreißig Jahren, so ziemlich meine letzte Chance auf Mutterschaft war? Mutter Gödel hätte eine Fehlgeburt als eine bedauerliche, aber gerechte Strafe für die Geschiedene betrachtet, die es gewagt hatte, ihren Sohn an sich zu binden. Kurt hatte dieses Thema jedenfalls immer gemieden. Vaterschaft gehörte nicht zu seinem Programm. „Kümmere dich um alles“, hatte er gesagt. Ich ließ zu, dass er sich verrückt machte und in alle Himmelsrichtungen kabelte, um die Mittel für eine zweite
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