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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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seiner Unbekümmertheit, weil er sich immer nur nach Frieden sehnte.
    Ich aß meine Bouillon und unterdrückte den Brechreiz. Zerstreut streichelte ich meinen Bauch, als ich dem forschenden Blick meiner Mutter begegnete. Ihr war mein Unwohlsein aufgefallen, sie ließ sich aber nichts anmerken. Kurt hingegen hatte meine Appetitlosigkeit und mein ungewohntes Schweigen bestimmt meiner Rührung zugeschrieben. Er hätte es nicht einmal bemerkt, wenn Hitler nackt auf unserer Hochzeitstafel getanzt hätte.
    Nach dem bescheidenen Mahl verließen wir den Rathauskeller und machten im leichten Nieselregen einen Spaziergang. Als wir an den kleinen Bratwurstbuden vorbeikamen, schimpfte mein Vater ohne große Zurückhaltung:
    „Um Geld zu sparen, hätten wir besser hier auf den Parkbänken gegessen oder wären zum Heurigen nach Grinzing gegangen!“
    Meine Mutter zog ihn am Arm, damit er den Mund hielt.
    Die Fassaden der Gebäude am Park, darunter das Parlament, waren mit Hakenkreuzfahnen besudelt. Seit dem 12. März 1938, als die Nazi-Truppen in unser Land einmarschiert waren, hieß Österreich „Ostmark“ und Wien war eine deutsche Stadt geworden. Nach den gewaltsamen Aufständen, die die Annektierung begleitet hatten, war es auf den Straßen nun merkwürdig ruhig.
    Mein Vater wollte die Kriegspläne Deutschlands genauso wenig wahrhaben, wie er an den „Anschluss“ geglaubt hatte, obwohl unsere Illusionen Ende 1937 einen schweren Schlag bekommen hatten. Sosehr unser Kanzler Schuschnigg auch gegen die militärischen Manöver an der Grenze und gegen die Machtdemonstrationen der österreichischen Nationalsozialisten protestiert hatte, hatte er unter Hitlers Druck im Februar Arthur Seyß-Inquart zum Innen- und Sicherheitsminister bestellt. Dieser hatte die pronazistischen Tumulte geduldet, wenn nicht gar unter der Hand angezettelt. Grenznahe Städte wie Linz waren von Hitler-Lieder grölenden Braunhemden heimgesucht worden. Die Jugend des Landes, entmutigt von den wirtschaftlichen Problemen und von der Propaganda infiziert, hatte sich für den Anschluss ans Deutsche Reich begeistert. Anfang März hatte Schuschnigg eine Volksbefragung zur Unabhängigkeit Österreichs abhalten wollen – ein letzter jämmerlicher Versuch, die Freiheit in unserem Land zu erhalten. Daraufhin hatte Hitler mit dem Einmarsch gedroht und ihn gezwungen, das Referendum abzusagen. Am Abend des 11. März hörten wir im Radio die Rücktrittsrede unseres Kanzlers. Ein hysterischer Mob, trunken vor Genugtuung, hatte sich in die Straßen ergossen, Schaufenster zerschmettert und Ladenbesitzer zusammengeschlagen. Ich hatte mich in Grinzing verkrochen und die ganze Nacht gebetet, dass das kleine Geschäft meiner Eltern nicht angegriffen werden würde. Doch der Hass der Menge war nicht blind gewesen: Er hatte sich ausschließlich auf die Läden jüdischer Händler gerichtet. Im Morgengrauen des nächsten Tages hatten die Stiefelträger die Grenze überschritten. Das ganze Durcheinander war ein idealer Vorwand gewesen, denn nun müsste man die Ordnung wiederherstellen. Die Österreicher selbst wären offenkundig nicht mehr in der Lage, ihr Land in den Griff zu bekommen. Weder Frankreich noch Großbritannien hatten gewagt, sich zu widersetzen. Unter Hochrufen und Blumen waren die Deutschen in Österreich einmarschiert. Fast hätte man sie noch angefleht, uns vor uns selbst zu retten. Nie waren Invasoren herzlicher empfangen worden. Warum hätte es auch anders sein sollen? Sie brachten einem Land am Rande des Bürgerkriegs, das in eine nicht enden wollende Depression gefallen war, Hoffnung auf Stabilität und Wohlstand. Dass das Chaos erst von den Nazis geschürt worden oder dass der wirtschaftliche Aufschwung der erste Schritt hin zu einem grauenvollen Gesamtplan war, spielte dabei keine Rolle. Denn sie hatten eine leichte Lösung parat: Tod den Juden.
    Außer sanften Träumern wie mein Vater konnte niemand diese Machenschaften übersehen: Hitler würde weder in Österreich noch im Sudetenland Halt machen. In Europa würde Krieg ausbrechen. Am 12. März 1938 empfingen die Österreicher die Deutschen wie entfernte Verwandte, die in den Schoß der Familie zurückgefunden hatten. Natürlich waren sie ein wenig besorgniserregend, aber sie hatten die Arme voller Geschenke. An die Ärmsten der Armen wurden Lebensmittel verteilt, das System der sozialen Sicherung wurde auf ganz Österreich ausgedehnt, Arbeitslose bekamen Beihilfen, Schulferien wurden eingeführt. Nach dem

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