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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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kochen noch im Garten arbeiten. Sie war deprimiert, weil sie sich so nutzlos vorkam. Sie musste im Rollstuhl sitzen, und er konnte sich nicht um sie kümmern – er konnte sich ja nicht mal um sich selbst kümmern! Da Adele sich immer so sehr um ihren Mann gesorgt hatte, hatte sie ihre eigene Gesundheit vernachlässigt. Aber was soll man sagen? Für sie kam er vor allem anderen, auch vor ihrer eigenen ärztlichen Behandlung.“
    „Er starb, während seine Frau in der Klinik war, nicht wahr?“
    „Kurz darauf. Die Arme hatte ja keine Wahl – wir haben sie gezwungen, in die Klinik zu gehen. Ihr Leben stand auf dem Spiel, aber sie weigerte sich, ihn allein zu lassen. Er aß nicht, wenn sie nicht da war. Ich pendelte zwischen beiden hin und her, obwohl ich genau wusste, dass es schon zu spät war. Er machte niemandem mehr die Tür auf, nicht einmal mir. Ich stellte sein Essen auf die Treppe. Meistens rührte er es nicht an.“
    „Er wollte sterben ohne Adele?“
    „Ohne ihre Pflege wäre er schon längst tot gewesen. Jahrelang hat sie ihn auf Händen getragen.“
    Anna faltete das Taschentuch zusammen.
    „Ich bringe es Ihnen beim nächsten Mal wieder mit.“
    Sie hoffte, dass das nächste und letzte Mal nicht bei Adeles Begräbnis wäre.
    „Trotz allem, was er ihr zugemutet hat, habe ich nie ein Paar mit größerem Zusammenhalt getroffen. Es wundert mich, dass sie ihn bis jetzt überlebt hat. Ich hatte ihr nur noch wenige Monate gegeben. Ohne jemanden, dem sie helfen musste, hatte sie keinen Grund mehr, weiterzuleben. Sie war verloren. Sie wusste ja nicht einmal, wie man einen Scheck ausstellt. So einfach war das!“
    „Ich dachte, sie hätte sich um alles gekümmert.“
    „Manchmal hatte Mister Gödel Grillen im Kopf. Am Ende war er überzeugt, dass sie hinter seinem Rücken sein Geld verprasste. Als wäre Adele je auf so eine Idee gekommen, wo sie ihn doch Tag und Nacht pflegte! Und als hätten sie überhaupt so viel Geld gehabt, um es aus dem Fenster zu werfen! Wie traurig. Dreißig Jahre in diesem Haus, mehr als vierzig Jahre an der Seite ihres Mannes, und dann kommt sie eines schönen Tages von einem Augenblick auf den anderen allein ins Hospital und kann nicht mehr zurück.“
    „Haben Sie geholfen, das Haus in der Linden Lane zu räumen?“
    „Wir haben fünf Tage gebraucht, um den Keller zu entrümpeln. Stapelweise Papier! Adele hat immer wieder innegehalten, hat sich Fotos angesehen oder Notizen gelesen. Das meiste war Gekritzel. Bis auf ein paar Briefe haben wir alles in Kartons gepackt.“
    Anna konnte sich gerade noch beherrschen, zu fragen: „Wo ist dieses Scheißarchiv?“, denn Elizabeth wusste schließlich, dass sie am Nachlass interessiert war.
    „Sie hat geweint, die Ärmste, hat auf Deutsch geschluchzt, ich habe nicht alles verstanden. Sie hat sich die Haare gerauft, ich hatte Angst, sie würde überschnappen.“
    „Von wem waren diese Briefe?“
    „Von der Familie ihres Mannes. Diese Leute mochten sie nicht. Man musste nicht besonders schlau sein, um zu wissen, was darin stand.“
    „Und was hat sie damit gemacht?“
    „Sie hat sie verbrannt. Wie hätte sie sich sonst Erleichterung verschaffen können?“

22.
1939
Adeles Regenschirm
    „Wir leben in einer Welt, in der 99% von allem Schönen
schon im Entstehen (oder schon vorher) zerstört wird.
… es sind irgendwelche Kräfte am Werk,
die das Gute direkt unterdrücken.“
Kurt Gödel
     
     
    Es regnete in Wien. Ich ging in der Eingangshalle der Universität auf und ab und achtete darauf, nicht auf dem nassen Marmorboden auszurutschen. Ich war aus dem Innenhof geflüchtet, durch den das Gegröle und die Stechschritte junger, müßiggehender Männer hallten. Früher hatte die Säulenhalle nur weises Geflüster hören müssen. Die antiken Meister, in Stein gemeißelt, betrachteten die Braunhemden, die Streit mit jedem suchten, der auf die ärgerliche Idee kam, ihnen unter die Augen zu kommen.
    Endlich erschien Kurt oben auf der Hauptstiege. Ich machte ihm unauffällig ein Zeichen, auf das er aber nicht reagierte. Der Abend versprach, schwierig zu werden. Er sah angespannt aus und hatte diese steile Falte auf der Stirn, an die ich mich noch nicht so richtig gewöhnt hatte. Seit seiner krankheitsbedingten Rückkehr aus den USA zeugte sie von seiner Verbitterung. Kurt war gealtert. Zaudernd zog er seinen feuchten Mantel über.
    „Es ist entschieden. Meine Habilitation wird nicht mehr anerkannt, ich darf nicht mehr unterrichten. Ich

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