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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Moment seine Brille auf. Wir nutzten die Verblüffung unserer Angreifer und rannten die Treppe hinunter, ohne nachzuschauen, ob sie uns folgten. In einem Höllentempo zog ich Kurt durch den strömenden Regen zum Café Landtmann , wo wir uns schließlich außer Atem an den Tisch setzten, der am weitesten von der Fensterfront entfernt war.
    Glasklar nahm ich jede Einzelheit im Lokal wahr – den Geruch des gerösteten Kaffees, vermischt mit der Feuchtigkeit, das Geräusch des scheppernden Geschirrs, das Stimmengewirr, das Murmeln des Regens draußen, das Gelächter der Küchenhilfen. Kurt war durchnässt, er schien völlig ausgelöscht zu sein. So nervös, wie er an seiner gesprungenen Brille herumfummelte, verhieß das nichts Gutes.
    Für mich war die Schlacht noch nicht geschlagen. Ich hatte ihn körperlich unversehrt aus einer Schlägerei gezogen, nun aber musste ich die seelischen Schäden reparieren. Dieser Vorfall hatte ihm ganz sicher den Mord an seinem Freund Moritz Schlick auf denselben Stufen wieder in Erinnerung gerufen. Ich hatte mehr Angst davor, Kurt untergehen zu sehen, als dem ganzen Heer des Reichs mit dem Regenschirm zu trotzen.
    Ich hatte nie damit gerechnet, dass er mich beschützen könnte. Seine Männlichkeit zu beweisen war für ihn nie ein Thema gewesen. Er hatte noch nie gegen etwas anderes angekämpft als gegen die Grenzen seines eigenen Denkens. Scharmützel intellektueller Natur konnte er durchaus führen. Nun aber hatte diese Gefahrensituation ihm die neue Ordnung aufgezeigt – das Regime der Absurdität. Kurt war nicht darauf vorbereitet, sich gegen die reine Dummheit zu stellen. Die Zeichen der Zeit standen nicht mehr auf leisen Tönen, sondern auf Gebrüll. Es waren nicht Kurts Zeiten. Das Ereignis wurde zur Anekdote, in der ich als Glucke daherkam, aber bestimmt nicht als Heldin. Wir haben oft darüber gesprochen. Er hat dann immer meinen Mut hervorgehoben und dabei seine eigene Haltung absichtlich herabgesetzt, hat sich die Rolle des ewigen Eunuchen zugewiesen. Ich habe nie richtig begriffen, ob es ihm ganz gleichgültig war, ob er als Schwächling daherkam, oder ob er seine Scham mit Verweigerung bemänteln wollte. Ich jedenfalls war nicht mutig gewesen, ich hatte lediglich auf meinen Überlebensinstinkt gehört.
    „Sie haben mich für einen Juden gehalten. Ich verstehe das nicht.“
    „Da gibt es nichts zu verstehen. Diese Strolche wollten nur Krawall schlagen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten sie eben einen anderen angegangen. Du warst einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
    „Das war eine Warnung der Universität. Sie wollen mir Angst machen.“
    „Ich verbiete dir, so einen Unsinn zu denken! Keiner hat sich gegen dich verschworen. Die Nazis stecken alle Intellektuellen in denselben Sack, und damit hat sich’s!“
    Er schlotterte. Ich nahm seine Hände und hielt sie mit Gewalt auf dem Tisch fest.
    „Ich kann nicht mehr an die Universität zurück. Sie warten auf mich.“
    „Ohne Lehrzulassung brauchst du auch nicht mehr zurückzugehen.“
    „Was soll aus mir werden, Adele?“
    Wie gern hätte ich ein „uns“ gehört. Oder lieber noch hätte ich die Frage selbst gestellt und eine Antwort von ihm bekommen.
    Der Kellner brachte unsere Bestellung. Ich trank meinen Cognac in einem Zug aus und machte ihm ein Zeichen, schnellstens einen zweiten zu bringen. Kurt hatte sein Glas nicht angerührt. Ich beschloss, ihm eine Art Elektroschock zu versetzen.
    „Wir brauchen Geld, und zwar sehr schnell.“
    „Meine Mutter ist in einer Zwangslage. Und mein Bruder tut schon, was er kann. Wir können mit der Überweisung aus Princeton rechnen, sobald das Geld von der Devisenstelle Foreign Exchange Service freigegeben ist.“
    „Ich rede vom Hier und Jetzt. Du musst dir Arbeit suchen, Kurt. Du hast alte Freunde in der freien Wirtschaft. Ich bin bereit, wieder als Serviererin zu arbeiten, aber auch du musst etwas tun.“
    „Ich soll als Ingenieur arbeiten? Du bist verrückt.“
    „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Diva zu spielen. Wir müssen einen Ausweg finden. Du musst arbeiten gehen!“
    Er erstickte fast an seinem Cognac. Die Vorstellung, etwas abseits des Busens seiner Alma Mater zu tun, hatte er immer verächtlich belächelt. Nun stand er mit dem Rücken zur Wand und wurde von ihr erdrückt.
    „Dann musst du eben die Bedingungen der Uni annehmen.“
    „Ich werde mich dem Willen der Nazis nicht beugen.“
    „Es wäre doch nur vorübergehend, Kurt. Schreib

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