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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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so schnell du kannst an Veblen oder an Flexner. Bitte sie, für ein doppeltes Visum zu bürgen.“
    „Ich habe mit John von Neumann darüber gesprochen. Meine österreichischen Reisepapiere sind nicht mehr gültig, und das Einwanderungskontingent aus Deutschland ist längst ausgeschöpft, sie nehmen niemanden mehr auf.“
    „Du bist doch nicht irgendwer!“
    Ich kippte meinen zweiten Cognac hinunter. Ich stand vor einer übermenschlichen Aufgabe.
    „Wir müssen Wien verlassen, Kurt.“
    „Du hast doch gesagt, dass du nie aus Wien weg willst.“
    „Uns hält hier nichts mehr!“
    „Seit Jahren versucht meine Mutter, mich vor der Gefahr zu warnen. Sie hatte es vor allen anderen begriffen. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass sie so viel Ärger mit den Behörden in Brünn hat.“
    „Doch auch sie ist nicht weggegangen.“
    Ich konnte seine Gedanken lesen: Wenn wir letztes Jahr auf sie gehört hätten, wären wir nun nicht in dieser Sackgasse. Selbst wenn Kurt nie vorgehabt hatte, endgültig auszuwandern, war es eine Waffe, die er in unserem kleinen häuslichen Krieg einsetzen konnte. Im vergangenen Herbst hatte ich eine Fehlgeburt gehabt, bevor ich ihm noch hatte sagen können, dass ich schwanger gewesen war. Zwei Wochen nach unserer Trauung war er allein nach Princeton gereist und erst im Juni des darauffolgenden Jahres wieder zurückgekommen. Wenn ich es ihm nun gestehen würde, würde ich ihn nur zu rückwirkenden Vorwürfen reizen. Die optimistische Anna hatte mir zwar geraten, ihn nicht abreisen zu lassen, ohne es ihm zu sagen, denn ihrer Ansicht nach hätte ihn die Vaterschaft mit neuer Kraft beleben können, aber ich hatte es vorgezogen, nichts zu riskieren. Diese Lüge würde mich lediglich ein bisschen mehr Einsamkeit und einige Gewissensbisse kosten.
    Ich hatte Anna seit Monaten nicht mehr gesehen – Anna Sarah, denn seit dem 17. August 1938 mussten alle Jüdinnen des Deutschen Reichs diesen Vornamen in ihren Papieren führen. Anna versteckte sich auf dem Land bei der Pflegemutter ihres Sohnes. So einen großen Stein hatte sie bei Wagner-Jauregg also doch nicht im Brett.
    „Trink aus, Kurt. Ich rufe ein Taxi. Damit wir diesen Trotteln nicht wieder an der Straßenbahnhaltestelle begegnen.“
    Kurt steckte wahrlich und wirklich in einer echten bürokratischen Klemme. Wenn er sich der neuen Ordnung nicht verpflichtete, bekäme er keine Reiseerlaubnis. Doch wenn er sich unterwarf, würde die unausweichliche Einberufung sein Visum nichtig machen. Seinem Landsmann Kafka hätte dieser schlechte Scherz bestimmt gefallen, wenn die Nazis in Prag nicht bereits auf seinem Grab getanzt hätten. Kurt hoffte, dass seine angebliche Herzschwäche ausreichen würde, um ihn wehrdienstunfähig zu schreiben, aber so war es nicht. Am Ende des Sommers 1939 wurde er für den Verwaltungsdienst für tauglich erklärt. Seine „Nervenkrankheit“ konnte er nicht heranziehen, um der Mobilmachung zu entgehen. Die Jahre seiner psychiatrischen Behandlung musste er sogar unter den Teppich kehren. Die amerikanischen Einwanderungsbehörden, die ohnehin schon überlastet waren, hätten ihm aufgrund einer solchen Krankheitsgeschichte ein Visum verweigert. Heute weiß ich, dass Kurts Schicksal weitaus schlimmer gewesen wäre, wenn man seine „Nervenschwäche“ offiziell angegeben hätte, denn in diesen Zeiten kam die Entlassung aus einem Sanatorium einer Eintrittskarte in ein Lager gleich.
    Für Kurt war es unvorstellbar, bei der Wehrmacht zu dienen. Wozu hätten sie ihn gezwungen? Die Logik eines unmittelbar bevorstehenden Krieges zu funktionalisieren? Ein Mörder mit weißem Kragen zu werden? Er wäre in sich selbst versunken. Abgesehen von seinen Forschungen, betraf ihn nichts, aber der Rest der Welt hatte es anders entschieden und ihm mit Gewalt die Nase in die stinkende Scheiße der Geschichte gesteckt.

23.
    Seit Mitternacht sah Anna zu, wie die Ziffern des Radioweckers nacheinander herunterklappten. Um 5 Uhr 30 setzte sie sich auf die Bettkante und rieb sich so heftig den Kopf, dass es schmerzte. Ihr trockenes Haar zerzauste noch mehr. Die Katze malträtierte die Matratze. Anna hatte keinen Nerv, sie daran zu hindern. Sie stand auf und trug das Tablett mit dem Fernsehimbiss vom Vorabend ab – eine halb geleerte Flasche Wein, ein Joghurt und eine Tüte Cracker. Unfickbare Jungfrau. Wieder und wieder grübelte sie über die Kränkung aus dem Mund der alten Dame nach. Als ob Ficken für Anna ein Problem wäre!
    Sie duschte lange

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