Die Göttin der kleinen Siege
ist,
vom Unendlichen haftet ihr doch sehr vieles an.“
Georg Cantor
Der Kummerschrei einer Möwe riss mich aus einem bewegten Traum – Decke und Polster lagen auf dem Boden. Durch die geschlossenen Vorhänge fiel ein Lichtstrahl in das ruhige Zimmer. Kurt saß nur im Hemd an dem kleinen Schreibtisch. Ich ging zu ihm und massierte ihm die Schultern.
„Kann ich die Vorhänge aufmachen?“
„Bitte nicht. Ich habe Kopfschmerzen.“
Auf Zehenspitzen machte ich ein wenig Ordnung. Sein Regenmantel, den er mit der üblichen Sorgfalt über die Rückenlehne eines Stuhls gehängt hatte, war noch feucht.
„Warst du heute Nacht draußen?“
„Ich war spazieren.“
„Und du konntest danach trotzdem nicht schlafen?“
„Ich bin in Gedanken.“
Ich machte Katzenwäsche, dann zog ich mich still an. Kurt war in die Betrachtung eines Stichs über dem Schreibtisch versunken – ein elegantes Quallen-Ballett.
„Ich gehe runter, wenn es dir recht ist.“
„Adele, ich habe Probleme.“
In vierzehn Jahren gemeinsamen Lebens hatte ich noch nie gehört, dass er sich so ausgedrückt hätte. Ich umarmte ihn, um seinen inneren Aufruhr zu spüren.
„Was kann ich tun, Kurtele?“
„Geh frühstücken.“
Auf Empfehlung seines alten Freundes Oswald Veblen hatten wir uns in dem kleinen Küstenort Blue Hill in einer charmanten Pension in einem weiß getünchten Holzhaus in einem Föhrenhain eingemietet. Schon im Jahr zuvor waren wir in Maine bei Kollegen von Kurt gewesen. Er mochte die frische, saubere Seeluft hier. Die lila Blüten erinnerten ihn an Marienbad. Dieses Mal aber verließ er das Zimmer seit unserer Ankunft in Blue Hill nicht. Manchmal verschwand er nachts und unternahm lange Spaziergänge am Meer.
Die Gäste im Speisesaal taten so, als würden sie mich nicht mustern. Ich wagte ein schüchternes „Good Morning“, noch immer hatte ich große Probleme mit der Sprache. Ich setzte mich an einen Tisch ganz hinten am Fenster. Die Besitzerin sprach leise mit einem älteren Ehepaar – sicherlich über uns, denn das Trio schielte unweigerlich immer wieder zu mir herüber. Missis Frederick tat geschäftig und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
„Missis Gödel! Wie geht es Ihnen heute Morgen? Man sieht Sie ja nur selten beim Frühstück. Und Ihr Mann – isst er denn überhaupt einmal etwas?“
„Bitte sprechen Sie langsamer.“
Sie nickte den anderen Gästen kurz zu, sie verstanden offensichtlich, was gemeint war.
„Ihr Mann?“
„Er schläft.“
„Ich habe gehört, er geht nachts aus dem Haus.“
„Er arbeitet.“
„Was arbeitet er?“
„Er ist Mathematiker.“
„Kann ich das Zimmer richten?“
Übereifrig dehnte sie die Silben. Ich hatte gute Lust, ihr die Schürze in ihr schlaffes Maul zu stopfen!
„Das mache ich selbst.“
„Putzen ist aber im Preis inbegriffen.“
Achselzuckend ging sie weg. Unsere Marotten bestärkten sie Tag für Tag in ihrem ersten Eindruck von uns. Seit unserer Ankunft, als sie unsere Reisepässe geprüft hatte, war sie misstrauisch.
„Sind Sie Deutsche?“
„Wir sind Flüchtlinge aus Österreich.“
Sie hatte ein argwöhnisches Gesicht gemacht. Seit dem Kriegseintritt der USA spielten unsere Visa kaum mehr eine Rolle – wir waren böse Nazis. Aber auch Kurt misstraute ihr. Beim ersten Frühstück hatte sie ihm gequält zugesehen, wie er das Geschirr abgewischt und anders hingestellt hatte. Aus Rache hatte sie den Kaffee neben seine Tasse geschüttet. Danach hatte sie in unserem Zimmer herumgeschnüffelt. Seitdem wollte Kurt nicht mehr, dass sie das Zimmer machte, und ging auch nicht mehr zum Essen hinunter. Hinter unserem Rücken wurde viel getratscht – wir waren Fremde. Feinde. Wir hätten eine überzeugendere Parodie der Normalität spielen sollen.
Wie sehr ich mich nach Wien zurücksehnte! Bald wäre Weinlese in Grinzing. Man würde Heurigen trinken, den neuen Wein, der so anders war als dieses scheußliche Gesöff, das nach Hustensaft schmeckte und nach dem die Amis so verrückt waren. Ich wusste nicht, ob im Krieg auch die Gartenwirtschaften zerstört worden waren, ich hatte keinerlei Nachrichten von meiner Familie. Die Universität Wien hatte über die deutsche Botschaft einen offiziellen Antrag an Princeton gestellt: Kurt Gödel dürfe seinen Aufenthalt in den USA nicht mehr verlängern. Kurt hatte Zeit geschunden, indem er sich auf eine bezahlte Stelle beworben hatte, wo er sein schwaches Herz schonen konnte. Zudem war er zu
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