Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
mitnehmen. Und dann muss ich es auch noch leise stellen, um die Scheintoten nicht aufzuwecken!“
    Adele summte und plapperte My Funny Valentine mit dünnem Stimmchen mit, ihre verdächtige Fröhlichkeit fiel Tropfen für Tropfen aus dem Infusionsbeutel.
    „Ich höre nur mehr die Melodie, meine Ohren lassen nach, sie hören, was sie hören wollen. Die Musik überlebt den Text.“
    „Aber Sie reden doch.“
    „Ich habe ein Leben in Stille nachzuholen, meine Schöne.“
    Adeles Blick fiel auf die kleinen grünen Blätter, die aus Annas Tasche lugten.
    „Kamelien! Meine Lieblingspflanzen. Sie sind wahrlich eine sehr gut informierte Dokumentarin.“
    „Ich habe sie in der Linden Lane gepflückt. Der Garten ist schlecht gepflegt, aber noch immer schön. Ich wollte Ihnen neueste Nachrichten von Ihrem Haus bringen, es muss Ihnen fehlen.“
    „Ich habe mich seit über vierzig Jahren nicht mehr zu Hause gefühlt. Seit unserer Abreise aus Wien war ich immer im Exil.“
    Der Infusionsschlauch war zu kurz, die alte Dame schaffte es nicht, die Pflanzen zu berühren. „Geben Sie her, bevor die Hexe in den Galoschen sie mir wieder wegnimmt!“ Ihr zerfurchtes Gesicht hellte sich auf, als sie an den prächtigen Blüten roch. Anna nahm dieses Lächeln als Belohnung. Nachdem sie in der Linden Lane vergebens geläutet hatte, hatte sie sich überwinden müssen, heimlich das Privatgrundstück zu betreten. Aber sie hatte sich kein anderes Geschenk vorstellen können, um ihre Schuldgefühle zu kompensieren. Adele zerrieb eine Blüte, dann hielt sie diese unter die Nase und seufzte.
    „Sie riechen nicht sehr stark, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie sich bis so spät im Jahr halten würden.“
    Auch Anna nahm eine Blüte, der schwache Duft konnte es nicht mit dem starken Zimtgeschmack in ihrem Mund aufnehmen. Sie schob die Blüte in die Tasche – sie würde sie als Lesezeichen benutzen.
    „Der Winter lässt auf sich warten.“
    „Das Wetter! Das ist ein Thema für alte Leute. Wissen Sie, wie sehr Kurt mir damit auf die Nerven gegangen ist? Er war mit seinem Barometer verheiratet. Zu heiß, zu kühl, zu viel Wind … Der größte Logiker der Welt! Der König der Langweiler! Ja.“
    „Wie können Sie so über Ihren Mann reden?“
    „Sie haben mir heute Morgen ein Wahrheitsserum eingeflößt. Dieser Mann hat mir das Leben zur Hölle gemacht!“
    Adele steckte ihre heitere Miene in die Blüten. Anna hatte sich darauf vorbereitet, eine sterbende Frau zu besuchen – solche Ausbrüche hatte sie nicht erwartet. Ganz kurz war sie versucht, Adele zu sagen, dass sie wusste, wie das Leben mit solchen überirdischen Nervensägen war. Mit sechs Jahren konnte Leonard bereits mit Nullstellen dividieren, während es Anna noch Schwierigkeiten bereitete, mit Rest zu multiplizieren. Mit zwölf Jahren erlaubte er es sich, die Arbeit seines eigenen Vaters, eines Mathematikers, zu kommentieren, der es langsam bereute, in seinem Sohn diese unstillbare Wissbegier geweckt zu haben. Leo, ein Choleriker und Charismatiker, ließ sich in nichts einschränken. Wie ein Bild seiner Selbstbezogenheit war er sich ausschließlich selbst verpflichtet. Von Kindesbeinen an hatte er seine Eltern genervt – und „bijektiv“, wie er gern sagte: gegenseitig. Die Adams taten alles, um das frühreife Kind zu disziplinieren, aber in der Pubertät waren die natürlichen Gegensätze aufgebrochen, und Leo war in der Tat ein Außerirdischer geworden. Um seine Körpersäfte zu läutern, hatte man ihn ins Internat gesteckt. Zur großen Erleichterung der ganzen Familie hatte Leos chaotische Jugend am Ende ihre Hoffnungen in ihn doch nicht zerstört. Er hatte es aus eigener Kraft, ohne die Hilfe seines Vaters, es sei denn, aufgrund irgendwelcher genetischer Veranlagungen zur höheren Mathematik, ans renommierte MIT geschafft, das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge.
    Anna legte ihre Hand beschwichtigend auf Adeles Hand, die gleich einen Teil der warmen Haut packte.
    „Ich gebe Ihnen einen Rat, Fräulein: Meiden Sie Mathematiker wie die Pest! Sie pressen Sie aus wie eine Zitrone, sie nehmen Ihnen alles weg, was Ihnen lieb und teuer ist, und sie machen Ihnen zum Ausgleich nicht mal einen kleinen Scheißer!“

26.
Sommer 1942
Blue Hill House
Das Hotel der Unendlichkeit
    „Ein Mann von Genie, sobald er vom ,Schwierigen‘ redet,
meint ganz einfach ,das Unmögliche‘.“
Edgar Allen Poe, Marginalia
    „So beschränkt auch die menschliche Natur in Wahrheit

Weitere Kostenlose Bücher