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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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meinen schönen kleinen Verdauungsspaziergängen kam ich daher wie ein komischer Kauz. Meditativer Müßiggang ist keine amerikanische Angelegenheit, er ist europäisch. Wird deshalb die Philosophie von diesem Kontinent verschwinden?“
    „Wie sehr mir Europa fehlt!“
    „Sie sehnen sich nach einer Welt, die es nicht mehr gibt, Adele. Ich fürchte fast, dass Sie von Ihrer Reise enttäuscht zurückkommen werden.“
    Kurt nahm mich am Arm. Ich empfand es eher als Warnung denn als Zeichen von Zärtlichkeit.
    „Unser Lebensmittelpunkt ist nun hier. Wir werden die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen.“
    „Selbst wenn Wien Ihnen eine Stelle nach Ihrem Geschmack anbietet?“
    „Diese Frage wird sich nicht stellen.“
    „Was meinen Sie, Adele?“
    „Ich gehe dorthin, wo er hingeht.“
    „Sie sind die Weiseste von uns!“
    Ich reichte Albert seine Aktentasche. Er erinnerte sich schon nicht mehr, dass er sie mir gegeben hatte.
    „Sagen Sie das den Beamten von der Einwanderungsbehörde! Ich lasse Sie nun allein, meine Herren. Ich habe Besorgungen in der Stadt zu machen. Ich muss einen ganzen Kübel Magnesiamilch kaufen! Und heute Nachmittag besuche ich Maja.“
    Sie hörten mich schon nicht mehr. Der braune Schopf und der graue Schopf steckten zusammen in einem hochtrabenden Gespräch, in dem kein Platz für mich war. Ich hatte meine Präsenz schon ausreichend deutlich gemacht. Für meinen Mann war die Freundschaft mit Albert teuer, um nicht zu sagen erlösend. Ich durfte mich nicht noch mehr einmischen. Ich machte mich auf den Weg, auch ich hatte zu tun. Ich musste eine Reise vorbereiten.

33.
    Am Tag X erwartete Adele zur verabredeten Stunde mit Persianermütze und Wangenrouge ihre Komplizin. Sie bat Anna, ihr in den enorm weiten, leuchtend blauen Mantel zu helfen, in dem man die beiden schon auf hundert Meter Entfernung erspähen würde. Anna hatte nicht den Mut, sie davon abzuhalten – dieses Kleidungsstück gehörte sicherlich zu Adeles früherem Leben. Sie hatte ihren Turban so platziert, dass er unter der Bettdecke hervorlugte und es so aussah, als würde eine schlafende Person im Bett liegen – weniger aus Sorge um eine überzeugende Vorstellung als vielmehr aus wehmütiger Erinnerung an ihre verrückte Jugend. Gladys ging mit Verschwörermiene im Flur auf und ab. Adele rügte sie, und Gladys versuchte, sich natürlicher zu geben, war jedoch noch weniger überzeugend.
    Jack wartete pünktlich am Tor unter dem Efeu und setzte die alte Dame in den Wagen, während Anna den Rollstuhl hinter einem Busch versteckte. Die fünfzehn Meilen bis zum Kino schienen ihr kein Ende zu nehmen. Gleichgültig gegenüber der Spannung lächelte Adele ihre Chauffeurin unablässig an, die einen solchen Frohsinn bei der alten Dame kaum gewöhnt war. In Annas Kopf sprossen die vielen unheilvollen Triebe, die ihren gewagten Plan vereiteln könnten. Der Ring aus Feuer in ihrem Bauch stand dem, der ihre Schläfen folterte, in nichts nach. Und alles nur, um drei Stunden lang Julie Andrews ertragen zu müssen! Anna konnte diese Filmdiva noch nie leiden. Von Mary Poppins bekam sie noch immer Albträume.
    Das County Theater , ein kleines Vorstadtkino, war frisch renoviert, die längliche Leuchttafel mit den schiefen schwarzen Großbuchstaben hatte es jedoch behalten. Wäre nicht eine aggressive Fast-Food-Leuchtreklame am Gebäude angebracht gewesen, hätte Anna sich in die Fünfzigerjahre zurückversetzt gefühlt. Als Adele den Titel des Films sah, mit dem Anna sie überraschen wollte, verbarg sie ihre Enttäuschung nicht. The Sound of Music hatte sie schon bei seinem Erscheinen 1965 gesehen. „Die Amerikaner zuckern unsere Geschichte wie ihren coleslaw . Das ekelt mich an.“
    Als Anna sie in den engen Sessel bugsiert hatte, ging ihre Atmung wieder normal. Und dann rastete ihr Verstand, der von den Details der Aktion beherrscht gewesen war, schließlich bei dem grundlegenden Problem ein, dem einzigen, das sie hätte bedenken können: Diese Musicalkomödie handelte auf dem Hintergrund des „Anschlusses“. Gedemütigt rächte sie sich an dem großen Becher Popcorn, den Adele am Eingang verlangt hatte. Auf ihre Frage „Sind Sie nicht zu müde?“ hatte Adele ihr das Ding zwischen die Beine gestopft. „Ich kann Leute nicht ausstehen, die im Kino reden!“ Anna schluckte ihre Empörung hinunter und sah sich im Saal um. Sie fürchtete, dort als Gipfel des Pechs jemanden in aller Heiterkeit vom Personal der Seniorenresidenz zu

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