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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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einen tausendseitigen Roman antun sollen, der in einem Sanatorium spielt? Ich kannte mich in diesen Dingen einschlägig aus. Dass Kurt mich weiterbrachte, darauf konnte ich nicht zählen, sein Kunstgeschmack war so wenig ausgefeilt wie der meine. Goethe gefiel ihm nicht, Shakespeare fand er schwer verständlich. Er mochte leichte Musik und dünne Bücher. Wagner machte ihn nervös, von Bach bekam er Zustände, von Mozart waren ihm die volkstümlichen Stücke am liebsten. Er wählte seine Zerstreuungen wie seine Nahrung: lustlos. Niemand konnte ihn der geistigen Faulheit bezichtigen, aber jenen, die ihm eine Art umgekehrten Snobismus vorwarfen, antwortete er: „Warum muss gute Musik tragisch und gute Literatur geschwätzig sein?“ Es war von Vorteil, ein Genie zu sein, denn meine bescheidenen Vorlieben galten hingegen als skandalöser Mangel an Bildung. Abgesehen davon, Freunde zu finden, verschonte die geringe Begeisterung meines Mannes für das gesellschaftliche Leben mich jedoch auch vor Demütigungen.
    „Ich habe es nie geschafft, den Zauberberg zu Ende zu lesen. Das Buch ist fürchterlich langweilig. Ich mag die kurze Form. Je länger ein Werk ist, desto weniger Gehalt hat es.“
    „Je besser ich Sie kenne, desto weniger verstehe ich Sie, Gödel.“
    „Ich reagiere extrem empfindlich auf jede Form von geistigen Reizen. Meine Energie ist begrenzt, ich spare sie für meine Arbeit auf. Außerdem sehe ich davon ab, meine Sinne zu ermüden. Ich verabscheue Komödien, und Tragödien erschöpfen mich.“
    „Sie sind wie eine Geige, deren Saiten zu sehr gespannt sind, mein Freund. Ihre Musik ist schön, aber es besteht bei Ihnen immer die Gefahr, dass eine Saite reißt. Lassen Sie locker!“
    „Sie würden mich weniger schätzen, wenn ich Ihnen ähnlicher wäre, Herr Einstein.“
    „Das kann ich Ihnen bestätigen. Unsere Spaziergänge sind für mich der Höhepunkt des Tages. Außer Ihnen wagt keiner mehr, mir zu widersprechen. Das ist ermüdend.“
    Ich sah, wie mein Mann sich in die Brust warf. Einstein konnte gut mit ihm umgehen. Er rieb ihm gern unhöfliche Widerworte und subtile Schmeicheleien unter die Nase, um sein unruhiges Wesen zu besänftigen, aber im vorliegenden Fall meinte er es ernst: Der Spaziergang gehörte zu ihren wenigen gemeinsamen Interessen. Für die beiden Kollegen war es eine Art philosophische Gymnastik. Als ich einmal über ihre kleinen Spaziergänge gespottet hatte, hatte mein Mann mir einen langen Vortrag in Geschichte gehalten. Sein berühmter Vorgänger Aristoteles hatte die Schule der Peripatetiker gegründet. Lehrer und Schüler der Antike hatten in der Wandelhalle debattiert, denn nichts ging über Bewegung und Gedankenaustausch, um eine vertrackte Frage zu lösen. Nach dieser Methode hoffte Kurt, die eingefahrenen Pfade des Denkens zu verlassen. Als hätte ich ihn nicht ständig ermuntert, Leute zu treffen! Ohne studiert zu haben, kannte ich diese Wahrheit: Man existiert nur im Spiegel der anderen. Doch wie Kurt sich von seinen Gewohnheiten befreien wollte, wenn er immer denselben Weg einschlug, das habe ich nie begriffen. Ich war eben kein Philosoph.
    „Kurt mag es nicht, wenn er unrecht hat. Mit Ihnen ist er in einer harten Schule.“
    „Widerspruch wie auch Abschweifungen sind kostbare Stimuli. Das Denken muss ständig in Bewegung sein, instabil wie das Leben selbst. Wenn es stehen bleibt, verhärtet es und stirbt ab.“
    „Kurt ist sehr häuslich. Er lässt der Fantasie keinen Raum.“
    „Er schreitet voran wie ein Logiker, Straße um Straße. Nietzsche erklomm Berge. Er wollte sich an Extremen messen.“
    „Seine Philosophie ist anstrengend! Kant drehte jeden Morgen eine Runde um sein Haus. Und egal, was meine Frau dazu sagt, ich ziehe seine Methode vor und halte mich an die Mercer Street.“
    Ein leuchtend roter Cadillac fuhr mit Tempo auf uns zu. Automatisch schob ich meine zwei Schlafwandler von der Straße weg. Albert betrachtete das Monster aus Chrom.
    „Die Liebe der Amerikaner für das Automobil fasziniert mich. Ich dagegen habe nicht einmal einen Führerschein.“
    „Ich schätze den Sinn der Amerikaner für alles Praktische. Hier ist alles viel einfacher.“
    „Das ist Ihr Standpunkt, Gödel. Nach meinem Dafürhalten sind die USA ein Land, das von der Barbarei direkt in die Dekadenz verfallen ist, ohne je die Zivilisation gekannt zu haben. Ich habe in Kalifornien gelebt, und dort sind Sie ohne Auto verloren, glauben Sie mir. Die Entfernungen sind riesig. Auf

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