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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
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man unversehens zu nahe gekommen war, das Fell gesträubt, die Zähne gefletscht.
    Aber es gab sich nicht zu erkennen.
    Ihr Herz hämmerte.
    »Hüte dich, in der Raserei der Furcht zu versinken, sonst kehrst du nicht zurück!« sagte sie laut in die Finsternis. Sie zwang sich zu ruhigem Atmen. Dann tastete sie nach der Trommel, begann sie sacht zu schlagen, wiegte den Körper im Rhythmus, sang leise. Sie sang Melodien ohne Anfang und Ende. Gleich einer Spirale wanden sie sich im immer wiederkehrenden Muster, erzählten vom Werden und Vergehen.
    Sie halfen. Das Grauen zog sich zurück.
    Alle Lieder sang sie, die sie kannte, verlor dabei jedes Gefühl für die Zeit. Als ihr kein Lied mehr einfiel, sang sie die gleichen noch einmal. Und noch einmal.
    Diese Lieder hatten ihr Leben begleitet, waren ihr vertraut, solang sie denken konnte. Einst hatte die Mutter sie gesungen...
    Die Mutter stand am Webstuhl, arbeitete und sang.
    Sie, das Kind, ließ sich mit der Spindel an der Feuerstelle nieder, zupfte an der Wolle, zwirbelte sie, streckte dabei die Füße zum Feuer aus und summte mit. Tante Kjolje fiel ein und wiegte ihr Baby an der Brust. Die Stimmen verwoben sich mit dem Prasseln und Rauschen des Regens, mit dem Knistern des Feuers.
    Kusine Mulai verlas Linsen, die größeren Vettern drehten gemeinsam eine Schnur, Li und Aktoll, die kleinen Brüder, spielten mit Holzklötzen, und Ritgo widmete sich dem mühsamen Durchbohren einer Steinaxt, indem er gleichförmig den Bogen der Bohrvorrichtung hin- und herzog. Nun begann auch er mitzusingen.
    Ritgos Stimme war die schönste.
    Der Gesang endete. Eben wollte Haibe ein neues Lied vorschlagen, da ging die Tür auf. Der Muga kam herein, dicht hinter ihm Usko, der Muga von Mulai und ihren Geschwistern. Sie schüttelten sich. Wassertropfen stoben aus ihren Haaren. Sie hängten die durchnäßten Mäntel über das Feuer. Haibe brachte den Breitopf vor dem herabrinnenden Wasser in Sicherheit.
    Was für ein Regen!« sagte der Muga und legte der Mutter den Arm um die Hüfte.
    Die Mutter lehnte ihren Kopf zurück an seine Schulter, ahne das Weben zu unterbrechen: »Frühlingsregen – Erntesegen!«
    Der Muga küßte ihr Haar, ließ sie los, kauerte neben Ritgo nieder. »Langwierige Arbeit, was?«
    Ritgo verzog das Gesicht. Er holte die Doppelaxt unter dem Bohrstab hervor, blies Sand und Steinstaub weg und zeigte sie dem Muga: »Hier! Ich bohre schon seit Tagen. Mein Oheim sagt, morgen muß es fertig sein!«
    »Tja«, meinte der Muga, »wenn dein Oheim das sagt, da kann man nichts machen!«
    Usko nahm Tante Kjoljes Baby auf seine Knie. »Auch!« rief der kleine Li und streckte dem Muga die Ärmchen entgegen.
    Der Muga setzte sich auf einen Schemel, hob sich Li aufs Bein und ließ ihn auf und ab hüpfen. Und dann sagte er: »Männer gibt es, Li, die reiten so auf Pferden!«
    »Ferden?« fragte Li verständnislos.
    Haibe lachte. »Aber Li! Glaub doch nicht alles! Der Muga macht wieder nur Spaß«
    »Spaß?« wiederholte Li zweifelnd. »Kein Spaß!«
    »Natürlich ist es Spaß!« warf Ritgo ein. »Pferde lassen niemanden auf ihrem Rücken reiten! Außerdem kann man ein Pferd gar nicht einfangen!«
    »Hör nicht auf deine Geschwister, Li«, sagte der Muga. »Die haben keine Ahnung. Es ist kein Spaß. Es ist wahr. Es gibt sie wirklich, diese Männer, die auf Pferden reiten! Im Osten wohnen sie. Sie sprechen eine andere Sprache als wir. In ihrer Sprache nennen sie sich: Söhne des Himmels. Und die halten sich gezähmte Pferde und reiten auf ihnen.«
    Die Mutter ließ den Webbaum fahren. Dumpf polterte er gegen den Rahmen des Webstuhls. »Söhne des Himmels! Ich werde es nie begreifen. Wie können Menschen so vermessen sein, sich einen Namen zu geben, der eine einzige Beleidigung für die Große Göttin ist?«
    »Aber du weißt doch, daß sie sie nicht verehren, die
Große
Göttin, in keiner ihrer Gestalten!« erwiderte der Muga. »Nicht als Schlange und nicht als Hirschkuh, nicht als Eule und nicht als Bärin, nicht als Vogelfrau und nicht als Sau. Sie haben Götter, die sie die Himmlischen nennen!«
    Haibe öffnete stumm den Mund. Ihr Atem stockte. Plötzlich war alles fremd und unwirklich um sie. Als sei nicht mehr sie es, die hier am Feuer saß.
    Die Spindel entglitt ihren kraftlosen Fingern.
    Haibe erinnerte sich an das Erschrecken, das sie damals in ihrer Kindheit erfaßt hatte: Nie zuvor war ihr der Gedanke gekommen, daß es andere Götter geben könnte als die Große Göttin in ihren

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