Die Göttin im Stein
meine Tochter geschändet hast, wirst du sie heiraten! So verlangt es der Brauch. Und du wirst mir zur Sühne den doppelten Brautpreis zahlen. Ich fordere achtzig Schafe, zwölf Kühe, vier Ochsen, drei Stuten und zwei Hengstfohlen. Und wenn du meine Forderungen nicht erfüllst, so ziehe ich dich vor den Rat der Weisen und vernichte dich und deinen Vater und deine ganze Sippe!«
Damit wendete der Vater das Pferd.
Endlich ritt er zu Cythia.
Cythia kauerte am Boden, hatte sich notdürftig mit ihrem zerfetzten Kleid bedeckt, hielt es mit gekreuzten Händen an der Brust zu.
Der Vater sprang vom Pferd, riß Moria mit sich. Cythia wich vor ihm zurück.
Der Vater nahm sich den Umhang von der Schulter und hielt ihn Moria hin: »Da! Leg deiner Schwester das um! Ich will ihre Schande nicht sehen!«
Moria zog sich die Decke über den Kopf, krümmte sich zusammen. Wenn sie so weit war, konnte sie auch der anderen Erinnerung nicht mehr entfliehen, sie wußte es.
Verzweifelt versuchte sie dennoch, sich dagegen zu wehren und das Bild des Lykos vor ihren Augen zu beschwören.
Zu spät.
Die Stimmen der Eltern im Nebenraum.
Der Vater, erregt: »Dieser Wolfskrieger, dieser Hairox, er hat sich gerechtfertigt, er habe Cythia für ein Bauernmädchen gehalten.
Warum?!
Wie konnte so etwas geschehen?!«
Die Mutter, schluchzend: »Sie hatte ein altes Kleid an. Und sie hatte sich Zöpfe geflochten . . .«
Der Vater, brüllend: »Zöpfe? Und du hast das gewußt? Du hast das zugelassen?!«
Die Mutter, noch heftiger schluchzend: »Ich hab' es ihr noch verboten, das gehört sich nicht, habe ich gesagt, mach sofort die Zöpfe wieder auf, wenn dein Vater das sieht, hab' ich gesagt, aber sie ist einfach in den Wald gelaufen . . .«
Der Vater, kalt: »Dann ist es ihre eigene Schuld! Diese verfluchte Widerspenstigkeit! Und meine eigene Mutter hat ihr früher auch noch den Rücken gegen mich gestärkt!
Was habe ich an Strenge gegenüber Cythia angewendet, aber sie mußte sich ja immer wieder auflehnen! Das hat sie nun davon.
Zöpfe flechten!« Die Zöpfe!
An allem sind die Zöpfe schuld. Ich war es. Ich, ich, ich.
Ich habe ihr die Zöpfe geflochten. Ich bin schuld.
5
Himmel und Erde, Höhe und Tiefe erbebten vom markerschütternden Klang. Im Dröhnen der Trommel stampften die Urzeitriesen, zürnte der Himmelsvater mit Donnerstimme, schlug der Heilige Krieger die Streitaxt. Die Schlachthörner tönten Wolfsgeheul.
Kein klarer Gedanke mehr, nur noch der Lärm, der den Kopf auftrieb.
Lykos umtanzte mit den Wolfsbrüdern das flammende Feuer – harte Schritte, rasche Drehungen, mutige Sprünge. Rasend wirbelten die Streitäxte, umzuckten die Tanzenden: tödliches Spiel.
Die Trommel verstummte. Klagend heulten die Hörner. Ruhiger wurden die Schritte, verebbten, versiegten.
Die Hörner schwiegen. Stille zerriß die Nacht.
Die Tanzenden sanken in die Knie und beugten sich über die Wolfsfelle. Lykos erschauerte. Die ausgestreckte Hand hielt zitternd inne.
Herrscher der Wölfe, dir bin ich geweiht. Lange Jahre habe ich dir gedient, nicht Entbehrung noch Schmerz, nicht Verstümmelung noch Tod gefürchtet. Und du warst in mir in der Wut des reißenden Wolfes.
Was bin ich ohne dich? Wird die Hand, die du geführt hast, meinem Befehl noch gehorchen?
Ich war ein Wolfskrieger, der die Welt in Furcht und Schrecken versetzte. Was werde ich in Zukunft sein?
Heiliger Krieger, ich beschwöre dich: Wenn du jetzt ein letztes Mal Besitz von mir ergreifst, so töte mich oder mache mich stark für alle Zeit.
Er versenkte die Finger in das weiche Wolfsfell.
Erinnerungen, Bilder blitzten auf: Die Weihe zum Wolfskrieger, als er das erste Mal die unwiderstehliche Kraft dieses Felles gespürt hatte – die Feste mit den Wolfsbrüdern – die Verwandlungen vor entscheidenden Kämpfen – die letzte Verwandlung vor dem Überfall auf jenes Dorf weit im Westen –
Dann zog er das Wolfsfell über den Kopf, drückte sich den Wolfsschädel auf die Stirn, und alles Denken hörte auf.
Wolfsblut glühte durch seine Adern, pulste im Schlag der wieder einsetzenden Trommel, dröhnte von Stärke und Zorn, von Unverletzbarkeit und Unbesiegbarkeit.
Kein Gegner, den er jetzt noch gefürchtet, keine Gefahr, die er geflohen hätte.
Ein Wolf war er, als er den Tanz ums Feuer wieder aufnahm und sich zu immer wilderen Sprüngen steigerte. Besessen von heiliger Wut, erfüllte ihn die große Kraft, die nicht die seine war.
Die Zeit zerrann. Augenblick oder Ewigkeit
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