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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
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sein Kopf widernatürlich verdreht, sein Gesicht blau

    Nein, dieses Bild nicht!
    »Eule mit den wissenden Augen, Allsehende, alles Erspähende, nichts kann sich vor dir verbergen. Deine weit ausgebreiteten Schwingen künden den Tod im unheilvollen Flug.«
    Der Pfeil sirrt durch die Luft, seine Federn glänzen in der Morgensonne, nicht Wirrkon, nicht mein Bruder

    Nicht daran denken!
    »Eule mit den wissenden Augen, Allsehende, alles Erspähende, nichts kann sich vor dir verbergen. Du führst die Lebenden zurück in den schwarzen Schoß, aus dem sie geboren sind und aus dem nur geboren werden kann, wer zuvor gestorben ist.«
    Die Mutter im Grab, als sie begriffen haben mußte, daß keiner kommen würde, ihr den Stein wegzurollen

    Ein anderes Gebet – rasch!
    »Starre Weiße Frau, du Hüterin der fahlen Knochen, durch dein Wirken verstummet alle Natur und versinket in tiefen Schlaf. Leblos und starr liegt, was eben noch freudig blühte und sprang. Du Gebieterin über Himmel und Wasser, zu der alles einkehrt, das aus dem Leben scheidet auf den Schwingen der Eule, die du die Sonne hervorbringst und den Mond ...«
    Und es gelang: Halb singend, halb sprechend versank Naki in der endlosen, sich kreisförmig wiederholenden Litanei des Gebetes, wiegte dabei ihren Oberkörper hin und her, verlor sich mit geschlossenen Augen in der Eintönigkeit ihrer Stimme, ihrer Bewegung, spürte, wie etwas sie erfaßte und mitnahm, alle Unruhe verschwunden, keine Angst mehr, keine quälenden Erinnerungen, nichts als der stete Strom des Gebets.
     
    Als sie aufwachte, fühlte sie sich seltsam wohl, schwer in den Gliedern und leicht im Kopf.
    Sie genoß dieses Gefühl als eine Gnade, hielt es fest, lag still, bis es sich restlos verflüchtigt hatte. Dann öffnete sie die Augen. Durch die Spalten der Bohlen an der Decke sah sie die Sonnenstrahlen im Dachstuhl des Speichers. Es mußte Morgen sein: Die Giebelöffnung des Speichers zeigte nach Osten.
    Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete das Tanzen des Staubs dort oben in dem schmalen Ausschnitt des Sonnenstrahls.
    Schau genau dort hin, denk an nichts anderes, denk nichts! So ist es gut. So überstehst du den Tag.
    Eulengöttin, Weiße Frau, ich danke dir, wieder einmal hast du mich gerettet.
    Die du Eins bist in Drei und Drei in Eins! Unter deinen Schwingen bin ich geborgen.
    Was wäre ich ohne dich. Alles, was ich noch an Kraft habe, alles, was noch lebt in mir, verdanke ich dir. Ohne deine Nähe wäre ich verloren.
    Mein ganzes Leben will ich dir weihen. Wenn du mich aus diesem Gefängnis befreist, soll jeder Atemzug ein Dank an dich sein. Wenn du mich befreist und ich dich je verrate, so soll mir in alle Ewigkeit die Rückkehr zu dir verwehrt sein. Ausgestoßen soll ich sein von den Lebenden und den Toten, das schwöre ich beim Blut meiner ermordeten Brüder.
    Als der Sonnenstrahl verschwunden war und mit ihm das Tanzen des Staubes, setzte sie sich auf, zog die Knie an, schlang die Arme darum und legte das Kinn darauf. Still stierte sie vor sich hin und überließ sich den Bildern. Sie spürte, heute würden sie gut sein.
    Die hohle Eiche, in der sie mit Wirrkon ihr Geheimversteck gehabt hatte, und niemand wußte davon –
    Die Abendsonne über den für das neue Grab aufgerichteten Steinen – Mutter und sie im Gemüsegarten, die Hände voller Erde, sie gräbt mit den Fingern einen Engerling aus und zeigt ihn der Mutter auf der flachen Hand, die Mutter nickt ihr zu: Grab ihn wieder ein, Kleine, damit er im Winter nicht friert und im nächsten Frühjahr ein schöner großer Käfer aus ihm wird–
    Die Schaukel im Lindenbaum, die der Muga für sie gemacht hat, sie sitzt auf dem Brett, stößt sich ab, biegt sich weit nach hinten, fliegt durch die Luft, der kurze Augenblick, als sie die Höhe erreicht, als ob die Zeit stehenbleibt, und dann beginnt die Talfahrt, sie schreit und lacht, dieses Ziehen im Bauch, dieses Glück –
    Zirrkan, der den Weg herauf zum Dorf wandert, sie steht am Tor und wartet auf ihn, geht ihm nicht entgegen, um die Freude zu dehnen: Gleich ist er da –
    Zirrkans Hände an ihren Schläfen, unter ihnen öffnet sich ihr Kopf, das läßt ihre Seele in den Himmel steigen – »Zirrkan«,
flüsterte sie. Das Bild zerrann.
    Dunkler war es geworden. Eintönig trommelte Regen auf das Schilfdach des Speichers.
    Sie lauschte. Wenn sie nur menschliche Stimmen hören würde! Oder wenigstens Tiere!
    Nichts. Nur der Regen, trostlos und

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