Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
Vom Netzwerk:
einförmig.
    Neue Bilder wollte sie rufen. Es gelang nicht.
    Ihr Atem ging rascher. Sie spürte sie kommen, die Angst. Sie versuchte zu singen, erschrak über den schrillen Klang ihrer Stimme, verstummte.
    Fieberhaft suchte sie nach Gebetsformeln. Ihr Kopf war leer.
    Die Unruhe wuchs. Und nichts, was sie dagegen tun konnte.
    Fahle Geister bewegten sich schemenhaft im Dunkel des Verschlags, huschten von rechts nach links. Sie griff danach, faßte ins Leere. Farbige Blitze zuckten vor ihren Augen.
    Ich halte das nicht mehr aus!
    Ihr Mund war ausgedörrt. Sie langte nach dem Holzeimer. Sie hob ihn an, stockte, stellte ihn zurück.
    Es war nur noch wenig Wasser darin, kaum mehr als ein paar Handvoll.
    Gestern noch hatte sie Wasser für ihr Gebet versprengt und keine Angst dabei empfunden.
    Nun plötzlich vernichtete dieser Anblick alle mühsam errichtete Beherrschung.
    Bleib ruhig! beschwor sie sich selbst. Du bist geborgen unter den Schwingen der Eule.
    Es half nicht gegen den stechend heißen Gedanken: Wenn er mir kein neues Wasser bringt, werde ich verdursten. Wie lange wird es dauern? Vier Tage? Fünf?
    Schwer hämmerte ihr Herz.
    Ich will nicht sterben, will nicht sterben, will nicht sterben –
    Sie spürte ihn, diesen merkwürdigen Klick. Und alle Dämme, die sie gegen die Sturzflut der Angst in sich errichtet hatte, brachen ein.
    Sie fiel und fiel. Da war ein Abgrund ohne Ende.
    Nichts mehr, das sie hielt. Nichts, woran sie sich halten konnte.
    Sie fiel und fühlte ein Entsetzen, das alle Verzweiflung, alle Schmerzen und alle Angst in sich aufsog und verwandelte in ein einziges schwarzes Nichts.
    Sie schrie.
    Sie tobte.
    Sie schlug mit den Fäusten an die Holzwand, mit dem Knie.
    Sie brüllte sich die Kehle heiser.
    Sie warf sich gegen die Tür.
    Sie trat mit den Füßen dagegen.
    Sie heulte.
    Sie kreischte.
    Sie riß sich an den Haaren.
    Es blieb wirkungslos gegen dieses schwarze Nichts. Rasend drehte sie sich zur Tür, wollte mit dem Kopf dagegen rennen.
    Da öffnete sich die Tür.
    Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Schreien erstarb. Er stand in der Tür.
    Gelassen. Lächelnd.
    Sie wankte. Warm spürte sie ihr Wasser die Innenseite der Beine hinabrinnen.
    Er ist gekommen. Ich bin nicht mehr allein.
    Er sagte etwas, sie verstand seine Worte nicht, aber sie hörte
    den Ton, sicher, ruhig und beruhigend, so spricht man zu einem verängstigten Tier, dachte sie seltsam losgelöst, wiederhoöte diese beiden Sätze: Er ist gekommen. Und: So spricht man zu einem verängstigten Tier.
    Wie aus weiter Ferne sah sie, sah seine leeren Hände. Er bringt dir nichts zu essen und nichts zu trinken, hörte sie ihre frei schwebenden Gedanken, sie sah, daß er ihr die Hände auf die Schultern legte und spürte sie nicht, er zog sie an sich heran, ihren Kopf an seine Brust, hielt sie, seine Hand auf ihrem Haar, wieder sprach er, seine Stimme nun Tadel und Tröstung zugleich, etwas in ihr geriet ins Gleiten, er durfte sie nicht wieder allein lassen, alles würde sie ertragen, aber nicht noch einmal das schwarze Nichts, sie wollte sich ergeben, sie würde ihm gehorchen, dann würde er sie nicht länger einsperren, sie würde alles tun, was er verlangte, könnte sie es ihm sagen, alles könnte gut sein, wenn er sie befreite, er hatte die Macht dazu, zu allem –
    Er schob sie zurück, ließ sie los.
    Da sank sie vor ihm in die Knie, sie wußte nicht, daß sie den Entschluß dazu gefaßt hatte, es geschah einfach, sie nahm seine Hände und küßte sie. »Herr!« brachte sie mühsam in seiner Sprache hervor, dies einzige Wort, das sie kannte: »Herr!« Und wieder küßte sie seine Hände.
    Eine Weile ließ er es zu, dann entzog er sie ihr, umfaßte ihr Kinn, hob ihr Gesicht zu sich, ernst sah er nun aus, aber nicht zornig, er sagte etwas, streng und mahnend, sie nickte, nickte, »Herr«, wiederholte sie, »Herr!«
    Und er hob sie auf, nahm sie auf die Arme, trug sie aus dem Verschlag und aus dem Speicher, sprang mit ihr im Arm in den Hof hinunter, die Sonne brach durch Regenwolken und stach ihr schmerzhaft blendend in die Augen, ihr Kopf an seiner Schulter, er befreite sie, er rettete sie vor dem schwarzen Nichts, er hatte sie nicht geschlagen, nie mehr der Speicher,
    nie mehr hungern, nicht verdursten, sie war so dankbar, so dankbar, er trug sie ins Haus, ihr war schwindlig.
    Neben der Feuerstelle legte er sie auf den Boden, beugte sich über sie und griff wieder ihr Kinn. Und dann neigte er sich zu ihr herab und küßte sie

Weitere Kostenlose Bücher