Die goldene Göttin
fühlte, daß ich dir nicht ganz vertrauen konnte – bis zu diesem Augenblick. Weißt du nicht, daß ich dir jetzt mein Leben anvertrauen würde?«
Als sie die Augen schloß, küßte er sie.
»Norni«, sagte er schließlich, schob sie auf Armeslänge von sich fort und zwang seine Aufmerksamkeit zurück auf seine Aufgabe, »du hast viele Verkleidungen getragen und viele Rollen gespielt. Diese sollte dir nicht schwerfallen – ich möchte wetten, du hast sie als Kind oft gespielt. Alle Zwillinge tun das.«
Sie warf einen langen Blick auf die Leiche ihrer Schwester, angetan mit den verhaßten Symbolen der Göttin, dann richtete sie ihre Augen wieder auf den Mann, den sie für ihren Rächer hielt. »Aber Nodiesop …«
»Ich kann dies nicht im Namen Nodiesops von dir verlangen«, sagte er. »Ich bitte dich nur in meinem eigenen Namen darum. Vielleicht magst du es für Hannibal Fortune tun.«
Sie lächelte, und ihre Augen glänzten. »Für Hannibal Fortune, dann«, sagte sie und legte ihren Umhang ab.
*
Webley, kaum einen halben Kilometer entfernt, war der Verzweiflung nahe. Er hatte diese Leute falsch eingeschätzt. Der Rausch der Rebellion war stärker, als er vermutet hatte, und sie waren trunken davon. Sinnlos betrunken.
Llandro, den er für den kühlsten Kopf des ganzen Haufens gehalten hatte, war genauso schlimm wie die anderen. Die Annahme, daß ein alter Taschendieb unfähig sei, seine Spezialität aufzugeben und eine andere anzunehmen, wurde empirisch widerlegt, denn Llandro der Dieb hatte sich in einen begabten Brandstifter verwandelt.
Zuerst versuchte Webley, seine fünfzehnhundert Tempelstürmer daran zu hindern, die Häuser und Läden ihrer persönlichen Feinde anzuzünden, doch sein Erfolg war gering. Llandro, der mit seinem Haufen zur Garnison zog, hatte keine solchen Hemmungen. Eine breite Bahn aus Flammen und Rauch markierte seine Bahn.
Resigniert beschränkte sich der Meeresgott darauf, seine mordbrennerischen Anhänger vorwärts zu treiben, damit sie über dem Brennen und Plündern nicht ihr eigentliches Vorhaben vergäßen. Hatte er einmal seinen Partner wiedergefunden, würde Fortune vielleicht wissen, wie er den Aufstand beenden konnte, bevor die ganze Stadt zerstört war.
*
Norni sah in Ylnis Zeremoniengewändern großartig und erhaben aus. Weil keiner wagte, der Hohepriesterin Fragen zu stellen, hatten sie keine Schwierigkeiten beim Verlassen des Tempels. In den Straßen von Manukronis drängten sich die Menschen, begierig, ihr Geld auf den Märkten, in Restaurants und bei Tierkämpfen loszuwerden. Da in jeder gegebenen Dreitagesperiode nur die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitete, während die andere Hälfte sich dem Müßiggang ergab, bis sie an die Reihe kam, hatte Fortune den Eindruck, die Stadt sei voll von Feriengästen. Am Rand des Tempelbezirks wurden die falsche Ylni und ihr Begleiter von sechs Wächtern in die Mitte genommen. Die Männer bestanden auf der Ehre, sie bis an ihr Ziel zu eskortieren. Norni war klug genug, das Angebot mit der richtig dosierten herablassenden Freundlichkeit anzunehmen.
Fortunes Plan war die einfachste und direkteste Methode zur Behebung des Schadens, den Kronos der zeitlichen Realität zugefügt hatte. Die Gefangennahme Kronos’ wäre der einfachste Teil des Plans, wenn sie erst im Palast waren, denn der Zeitübertreter hatte sich zu viele Jahre der Sicherheit erfreut, um irgendwelcher Verteidigungsanlagen in seinem Palast zu bedürfen; und obwohl er über Fortunes Anwesenheit im Königreich alarmiert zu sein schien, würde er bei einer überraschenden Konfrontation zweifellos der Benachteiligte sein. Fortune bedauerte nur, daß er seinen Dolch nicht hatte, denn eine Gaspatrone stellte in jeder Situation eine angenehme Rückversicherung dar.
Selbst wenn er seine eigenen Aktiva gering veranschlagte und Kronos größere Fähigkeiten und tödlichere Hilfsmittel zubilligte als wahrscheinlich waren, blieben seine Erfolgsaussichten günstig. Er hoffte, daß er den Mann nicht zu töten brauchte, denn Pohl Tausig konnte viel über die Imperiums-Organisation erfahren, wenn Kronos lebendig zur Zentrale gebracht würde.
Die Hauptarbeit stand erst bevor, sobald Kronos, wer immer er war, von der Bildfläche verschwand. Wahrscheinlich würden der neue König und die neue Hohepriesterin mehrere Jahre benötigen, um diese abgelegene menschliche Zivilisation auf das Niveau herunterzudrücken, das sie vor Kronos erreicht hatte, aber
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