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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Luft zu schnappen und damit die anderen Fahrgäste dich nicht sehen konnten?«
    »Ja.«
    »Wo du ganz ungestört warst?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Und da kam der Soldat zu dir.«
    »Ja.«
    »Du und der Soldat und das unsichtbare Baby.« »Ja.«
    Das Mädchen sah, worauf die Majorin hinauswollte. Es war, als werde sie plötzlich in ein Schlangennest gezerrt. Ihre Gedanken schweiften ab, und als sie sich wieder konzentrierte, sprach die Majorin in entschiedenem Ton. »... ein falscher Alarm. In Anbetracht ihres Alters liegt ihren Phantasien vielleicht keine böswillige Absicht zugrunde, aber es sind dennoch gefährliche Phantasien, denn die terroristische Bedrohung ist Realität. Eine Großfahndung würde Dutzende von Milizionären erfordern, die der Chimäre eines gestohlenen Babys nachjagen. Es gibt kein gestohlenes Baby, weil es kein Baby gab, das jemand hätte stehlen können. Die Fahndungsabteilung wird nichts weiter unternehmen, aber sie wird die Minderjährige, die sich hier nur als Maja identifiziert, zur weiteren Beobachtung in Gewahrsam nehmen.« Die Majorin schaltete den Rekorder ab. »Bedaure, Kind. Ich hab's von Anfang an nicht geglaubt. Niemand würde es glauben.«
    »Erzähl mal«, sagte der Leutnant. »Als du mit dem Soldaten am Ende des Wagens warst - hast du es ihm mit der Hand gemacht oder ihm einen geblasen?«
    Schenja konnte nicht sehen, was jetzt in dem Vernehmungszimmer vorging. Er hörte Schreie, Wasser klatschte und Glas klirrte. Die Tür flog auf, und der durchnässte Leutnant schleifte das Mädchen durch den Korridor, vorbei an der Samtkordel und dem Flügel und die Rolltreppe hinunter. Er hielt sie beim Kragen ihrer Jacke gepackt, und ihre Füße berührten kaum den Boden. Aber im nächsten Augenblick war sie aus ihrer Jacke geschlüpft und rannte durch den Wartesaal davon.
    Der Leutnant verfolgte sie. Seine Beine wirbelten, und er verwandelte sich in einen Sprinterstar. Im dämmrigen Zwielicht herrschte trotz der späten Stunde immer noch reges Treiben. Fast hatte er sie erreicht, als sie einen Haken schlug und hinter einem Stapel von Paketen verschwand. Sie schoss zwischen ein paar Rentnern in Rollstühlen und unter einem Tisch mit Souvenirs hindurch und verschwand in einer tschetschenischen Großfamilie. Eine gerissene Nummer, dachte Schenja. Die Leute jubelten und applaudierten dieser wilden Flucht. Schenja sah beeindruckt zu.
    »Fotze!« Der Leutnant blieb ausgepumpt stehen und schleuderte die Jacke des Mädchens zu Boden. Er humpelte im Kreis herum, um wieder zu Atem zu kommen, doch als der Krampf in seinem Bein nachließ, war das Mädchen nicht mehr zu sehen. Er wusste nicht einmal, in welche Richtung sie verschwunden war. Hätte nicht irgendein Bürger dem kleinen Luder ein Bein stellen können? Wäre das so schwer gewesen? Diese arroganten Moskauer Scheißer hatten der Miliz wie immer nicht geholfen. Als er die Jacke des Mädchens aufheben wollte, war auch die verschwunden.
     
    Schenja hatte keine Mühe, das Mädchen zu finden. Ihr orangerotes Haar war schwer zu verstecken. Sie hatte den unterirdischen Durchgang zur Metro gefunden, aber er glaubte nicht, dass sie vorhatte wegzufahren. Er durchsuchte ihre Jacke: eine Lesebrille, ein Gasfeuerzeug, eine halbe Packung Zigaretten »Russischer Stil« und ein Umschlag mit tausendfünfhundert Rubeln, umgerechnet etwa sechzig Dollar. Schenja vermutete, es war alles Geld, das sie hatte. Kein Handy, kein Ausweis. Inlandspässe bekam man mit dem sechzehnten Lebensjahr. Sie war also nicht älter als er.
    Die Metro war eine grandiose Höhle aus der Stalin-Ära, hundert Meter tief unter der Erde, ein Luftschutzbunker mit Ballsaal-Kronleuchtern und Rolltreppen, die klapperten wie hölzerne Gebisse. Das Mädchen war zehn Stufen weit unter ihm.
    Wie verrückt mochte sie sein? Einmal abgesehen von dem Leutnant - hätte eine echte Mutter der Majorin nicht alle Informationen gegeben, die sie brauchte? Dann hätte man eine Fahndung einleiten können, mit Steckbrief, Fernsehappellen an die Bevölkerung, mit genügend Leuten und Suchhunden. Wahrscheinlich war sie geistig nicht ganz bei sich, und das »Baby« würde sich als ihr verlorenes Hündchen erweisen.
    Unten verteilten sich die Leute auf dem Bahnsteig oder fuhren mit der nächsten Rolltreppe zu einer anderen, tiefer gelegenen U-Bahn-Linie. Das Mädchen ging allein zum hinteren Ende des Bahnsteigs und duckte sich hinter eine achteckige Kalksteinsäule. Schenja folgte ihr in einigem Abstand, fast wie

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