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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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ein selbsternannter Beschützer. Eine Digitaluhr über dem Gleistunnel zeigte an, dass der nächste Zug in fünf Minuten einfahren würde.
    Ein Wandbild aus vergoldeten Kacheln feierte den sowjetischen Arbeiter, und an der Decke konnte man - wenn man sich den Hals verrenkte - eine Galerie von Patrioten bewundern. Das Rauschen der Luft durch sichtbare und unsichtbare Tunnel und zwischen den Säulen klang wie ein unterirdischer Atem.
    Sie zog ein genervtes Gesicht, als er um die letzte Säule herumkam, als habe er sie aus ihrer Konzentration gerissen oder in einem privaten Augenblick gestört. Oh, Scheiße, dachte er. Das Mädchen saß im Schneidersitz auf dem Boden und drückte ein Rasiermesser ans Handgelenk, aber noch nicht fest genug, um die Pulsader zu zerschneiden. Ein zweischneidiges Messer. Noch vor wenigen Minuten war sie dem Leutnant entkommen, aber jetzt sah sie aus wie gelähmt. Als sie zu ihm aufblickte, begriff er, dass er jeden Augenblick in einer Blutlache stehen könnte. »Hast du mein Baby?«
    »Ich kann dir helfen«, sagte Schenja. Er zog ihre Jacke aus seinem Rucksack und zeigte ihr, dass das Geld und alles andere noch da war. Doch sie schaute ihm unverwandt in die Augen.
    »Du hast mein Baby nicht?«
    »Aber ich kann dir helfen. Niemand kennt die Drei Bahnhöfe besser als ich. Ich bin immer hier. Jeden Tag.« Er sprach schnell, und ohne das Messer aus den Augen zu lassen. »Ich sage nur, wenn du willst, kann ich dir helfen, weißt du.«
    »Du willst mir helfen?«
    »Ich glaube ja.«
    »Und was willst du dafür?«
    »Wie meinst du das?«
    Das Mädchen zog die Pause in die Länge. »Du weißt, was ich meine.«
    »Nein.« Schenja wurde rot.
    »Macht nichts.« Allmählich wurde es anstrengend, das Rasiermesser festzuhalten, und sie entspannte beide Arme. »Wo sind wir?«
    »In der Metro-Station unter den Drei Bahnhöfen. Warst du noch nie hier?«
    »Nein. Warum bist du nicht in der Schule?«
    »Bobby Fischer hat gesagt, die Schule ist Zeitverschwendung. Er hat in der Schule nichts gelernt.«
    »Wer ist Bobby Fischer?«
    »Nur der größte Schachspieler aller Zeiten.«
    Sie schaute ihn verständnislos an. Schenja hatte keine Erfahrung mit Mädchen. Sie behandelten ihn, als sei er unsichtbar, und er erwiderte diese Höflichkeit. Er sprach immer im gleichen Tonfall, und sein Talent zur Konversation war katastrophal, aber trotzdem, dachte er, musste er irgendetwas Richtiges gesagt haben, denn sie schob das Rasiermesser in eine Papphülle und stand auf. Die Kronleuchter klirrten, und ein heftiger Luftzug fegte durch den Bahnhof, als ein Zug am Bahnsteig einfuhr.
    Hätte sie ihn gefragt, hätte er ihr sagen können, sie solle die mit einem roten Streifen markierten Wagen besser meiden, weil sie Risse im Fahrgestell hatten. Er wusste alles Mögliche.
    »Wie alt bist du?«, fragte sie. »Sechzehn.« Er fügte ein Jahr hinzu. »Na klar.«
    »Ich heiße Schenja Lysenko.«
    »Schenja Lysenko, Schenja Lysenko.« Sie fand den Namen wenig inspirierend. »Und du?« »Maja.« »Nur Maja?« »Maja.«
    »Ich habe gesehen, wie du dem Leutnant entwischt bist. Das war typisch. Man geht zu ihnen, weil man Hilfe braucht, und wird beinahe verhaftet.«
    »Ich brauche sie nicht.«
    »Hast du Verwandte in Moskau?«
    »Nein.«
    »Freunde?«
    »Nein.«
    Auf der anderen Seite des Bahnsteigs kam ein Zug an, und das Getöse der ein- und aussteigenden Fahrgäste machte jedes Gespräch unmöglich. Als der Zug die Türen schloss und abfuhr, war die Galerie der Patrioten so gut wie leer.
    Schenja zählte eins und eins zusammen. Sie hatte nur ihn.
     
    Sie drängten sich durch die amorphe Masse einer russischen Warteschlange, vorbei an Geschäftsleuten, deren Geschäft in einen Koffer passte, an bunt gekleideten Usbekinnen, grau verhüllten Babuschkas und Soldaten auf Urlaub, die noch den letzten Tropfen Bier aus der Flasche nuckelten. Die meisten Züge waren Elektritschkas, Nahverkehrszüge mit Oberleitung, aber manche durchquerten auch Gebirge und Wüsten auf ihrem Weg zu exotischen Gegenden, die ein paar tausend Kilometer weit entfernt waren.
    Ein Express verließ den Bahnsteig drei. Als der Zug das Bahnhofsgelände zur Hälfte durchquert hatte, fuhr er durch Hitzewellen in eine Lagune aus Masten und Signalen, versank darin und verschwand. Die Aufseherin auf Bahnsteig drei, eine energische Frau in blauer Uniform und Laufschuhen, fächelte sich mit ihrer Signalkelle Luft zu. Wenn die beiden Teenager, die da auf sie zugelaufen kamen, den

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