Die goldene Meile
Zug verpasst hatten, konnte sie jetzt auch nichts mehr tun.
Schenja und Maja hatten die Kleider getauscht. Sie trug sein Sweatshirt - offen, aber mit hochgeschlagener Kapuze, um ihr orangerotes Haar zu verbergen. Er hatte dafür ihre Bomberjacke angezogen, obwohl die Ärmel seine mageren Unterarme nur halb bedeckten. Aus dem Augenwinkel sah er bewundernd, wie kühn Maja auf die Bahnsteigschaffnerin zuging.
»Sie sind nicht die Schaffnerin, die heute Morgen hier war.«
»Nein, die hat schon seit ein paar Stunden Feierabend.« »Und die Züge von heute Morgen?«
»Wieder abgefahren. Warum? Hast du was verloren?« »Ja.«
Die Schaffnerin zeigte Mitgefühl. »Das tut mir leid, Kind. Was man in einem Zug liegen lässt, ist wahrscheinlich für immer weg. Ich hoffe, du hängst nicht zu sehr daran.«
»Es war mein Baby.«
Der Blick der Schaffnerin ging von Maja zu Schenja und wieder zurück. »Ist das dein Ernst? Warst du bei der Fahndung?«
»Ja. Die glauben mir nicht.«
Der Schaffnerin verschlug es den Atem. »Mein Gott, warum denn nicht?«
»Sie wollen zu viel wissen. Ich will nur mein Baby wiederhaben. Ein drei Monate altes Mädchen.«
»Ist das wahr?« Die Schaffnerin sah Schenja an.
»Sie glaubt, eine Frau namens Tante Lena hat es gestohlen. «
»Nie gehört. Wie heißt du denn, Kind?« »Maja.«
»Bist du verheiratet, Maja?« »Nein.«
»Verstehe. Wer ist der Vater?« Die Schaffnerin warf einen vielsagenden Blick auf Schenja.
»Der doch nicht«, sagte Maja. »Ich habe ihn eben erst kennengelernt.«
Die Schaffnerin überlegte einen Moment. Dann fragte sie Schenja: »Hast du das Baby gesehen?« »Nein.«
»Dann tut es mir leid. Ein Baby zu entführen ist eine Straftat. Die Fahndungsabteilung ist die zuständige Behörde. Ich wünschte, ich könnte euch helfen.«
»Sie hat ein blasses Muttermal im Nacken. Fast wie ein Fragezeichen. Man muss das Haar anheben, um es zu sehen.«
Schenja drückte der Schaffnerin einen Zettel in die Hand. »Das ist meine Handynummer. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie etwas hören.«
Ein Mann mit einem Koffer in der einen und einem kleinen Kind an der anderen Hand kam auf den Bahnsteig. Er blieb stehen. Der Zug war weg. Das Kind sank zu Boden und fing an zu weinen.
Maja kamen die Tränen. Sie war wütend, und außerdem schmerzten ihre Brüste.
Schenja zog sie zum Ausgang. Nachdem sie einmal angefangen hatte zu weinen, konnte sie nicht mehr aufhören - als sei das Baby ihr in diesem Augenblick aus den Armen gerissen worden. Sie krümmte sich und schluchzte verzweifelt. Schenja, der so stolz auf seine Nüchternheit war, spürte erschrocken, wie ihr Weinen ihm die Kehle zuschnürte.
»Das ist Scheiße«, sagte er. »Wirklich Scheiße.«
»Mein Baby ...«
»Ich kenne einen Ermittler aus dem Büro des Staatsanwalts. Ein anständiger Kerl.«
»Keinen Staatsanwalt, keine Polizei.«
»Rede nur mal mit ihm. Wer das Baby geklaut hat, kann auf hundert verschiedene Arten verschwunden sein. Zwei Leute können nicht alles abklappern.«
»Keine Polizei.«
»Er wird dir privat helfen.«
Das verstand sie nicht. »Warum sollte er das tun?« »Weil er sonst nichts zu tun hat.«
VIER
Das Zeichen der Miliz an dem zweigeschossigen Gebäude am Kasaner Bahnhof war so diskret, dass es sich auch um eine öffentliche Toilette hätte handeln können. Im Laufe der Jahre war Arkadi ein Dutzend Mal hier gewesen, um einen Verdächtigen zu vernehmen oder ihn vor der Vernehmung zu bewahren. Die Treppenstufen waren passenderweise mit rissigen Fliesen belegt, die aussahen wie zerbrochene Zähne. Er stieg die Treppe hinauf zu einem Mannschaftsraum, und sein Blick wanderte über alte Pizzaschachteln, Wandtafeln, verstaubte Fotos vergessener Helden, alte Rundschreiben, die sich zu vergilbten Rollen gekräuselt hatten, neue Rundschreiben im Papierkorb und Schreibtische voller Brandflecken und Kaffeekringel. Das alles entsprach Arkadis Stimmung.
In einem Eckbüro war Oberst Rudd, sonnenverbrannt und mit nacktem Oberkörper, damit beschäftigt, eine Urkunde an die Wand zu hängen. Jede seiner Bewegungen sah schmerzhaft aus. Die kahle Stelle auf seinem Kopf sah schmerzhaft aus.
»Genug von diesem verdammten Kreta mit seiner verdammten Sonne. War sowieso voll von Russen.« Die Urkunde bestätigte, dass Oberst Leonid N. Rudd an einem »Internationalen Kongress über Terrorbekämpfung und globale Verteidigung« teilgenommen habe. Ähnliche Urkunden aus Tunis, Amsterdam und Rom hingen bereits an der
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