Die goldene Meile
Bobby Fischer hatte Russisch gelernt, um Schachanalysen lesen zu können, und Schenja wollte diese Höflichkeit erwidern. Er konzentrierte sich auf das Wort »patt«, mit dem das unentschiedene Ende einer Partie bezeichnet wurde, aber es gab auch viele andere nützliche Ausdrücke.
Mit einem Klicken öffnete sich die Tür gegenüber. Schenja sah zwei Milizoffiziere und ein Mädchen an einem Stahltisch, auf dem eine Plastikkanne mit Wasser, Pappbecher und ein Kassettenrekorder standen. Der ranghöhere der beiden Offiziere war eine Frau - eine Majorin, nach den Sternen auf ihren Schulterklappen zu urteilen. Ein Leutnant hatte seinen Stuhl gegen die Wand gekippt und beobachtete die Fliegen, die eine Hängelampe untersuchten.
Das Mädchen war ungefähr fünfzehn, so alt wie Schenja. Ihre Augen schwammen in Tränen, und da sie ihr Haar neon-farben gefärbt hatte, war sie genau der Typ, den die Miliz gern festnahm, aber die Majorin sprach in mütterlichem Ton mit ihr.
»Zuerst die nötigen Informationen, dann die Suche. Alles wird gut werden. Vielleicht findet jemand dein verlorenes Baby, bevor wir hier fertig sind.«
»Ich habe es nicht verloren. Jemand hat es gestohlen.«
»Das hast du schon gesagt. Dazu kommen wir noch.«
»Wir verschwenden nur Zeit. Warum suchen Sie sie nicht?«
»Mein Kind, wir gehen nach einer systematischen Methode vor, die gut funktioniert. Dieser Fall ist problematisch. Du sagst, du hast kein Foto von dem Baby.«
»Ein Baby ist ein Baby.«
»Trotzdem ist es schade. Ein Foto ist wichtig, wenn man jemanden sucht.«
»Haben Sie die denn gefunden?« Das Mädchen zeigte auf die Fotos an der Wand, Schwarzweißkopien von Schnappschüssen, körnig vergrößert, im Haus oder im Freien aufgenommen, Leute unterschiedlichen Alters und beiderlei Geschlechts, die nur eins gemeinsam hatten: Sie waren verschwunden.
»Leider nicht. Aber du musst uns helfen.«
»Wir können ein Baby nicht einfach irgendjemandem aushändigen«, sagte der Leutnant.
»Leutnant ...« Es klang, als rede sie mit einem ungezogenen Jungen.
»Ich mache nur Spaß.«
»Dein Zug ist vor über einer Stunde angekommen«, sagte die Majorin. »Du hättest gleich zu uns kommen sollen. Wenn man ein Kind lebend wiederfinden will, ist die Zeit ein entscheidender Faktor.«
»Aber wir verschwenden jetzt Zeit!«
»Dein voller Name?«
»Maja.«
»Weiter nichts?«
»Weiter nichts.«
»Bist du verheiratet, Maja?«
»Nein.«
»Aha. Und wer ist der Vater?«
»Jemand, den ich mal kennengelernt habe, nehme ich an.«
»Jemand, den sie mal kennengelernt hat«, sagte der Leutnant. »Du meine Güte.«
Aber die Majorin redete weiter von Frau zu Frau mit dem Mädchen, und sie schien Mitgefühl zu haben. »Du bist sehr jung für ein Baby. In welche Klasse gehst du?«
»Ich habe die Schule abgeschlossen.«
»So siehst du nicht aus. Zeig mir bitte deine Fahrkarte und deine Papiere.«
»Die waren in meinem Korb. Ich hatte zwei Körbe, einen für die Kleine und einen für ihre Sachen. Sie hat auch eine blaue Decke mit gelben Küken. Alles weg.«
»Eine Geburtsurkunde?«
»Weg. Aber ich weiß ihre Augen- und ihre Haarfarbe, und sie hat ein Muttermal. Sachen, die nur eine Mutter wissen kann.«
»Hast du irgendwelche Papiere für dich oder das Baby?« »Geklaut.«
»Können deine Eltern uns Informationen geben?« »Die sind tot.«
»Sonst jemand?« »Nein.«
»Also existiert dieses Baby auf dem Papier gar nicht, und im Zug war es unsichtbar. Verstehe ich dich richtig?« Das Mädchen schwieg. »An welchem Bahnhof bist du eingestiegen?« »Das weiß ich nicht.«
»Ich bitte dich. Du musst doch wissen, an welchem Bahnhof du eingestiegen bist.« »Nein.«
»Oder wann das Kind verschwunden ist.«
»Das habe ich doch gesagt. Sie wurde gestohlen, als ich schlief. Sie war in einem Korb.«
»Und du sagst, es war diese sogenannte Tante Lena?«
»Haben Sie mal von ihr gehört? Sie hat gesagt, jeder kennt sie.«
»Nein. Von so einer Person habe ich noch nie gehört. Hast du außer mit Tante Lena noch mit jemandem gesprochen?«, wollte die Majorin wissen.
»Nein.«
»Hat sonst jemand das Baby gesehen?« »Nein.«
»Hast du es versteckt?«
Das Mädchen antwortete nicht, aber die Fragen kamen immer schneller.
»Was ist mit dem Soldaten?«, fragte die Majorin.
»Was?«
»Beim ersten Mal hast du von einem Soldaten gesprochen. Du hast gesagt, du bist mit dem Baby ans Ende des Wagens gegangen.«
»Um frische Luft zu schnappen.«
»Um frische
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