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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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die Tür aufgemacht?«
    »Ja, aber ich habe den Aufzug nach oben geschickt und bin mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinaufgegangen.«
    »Das war knapp.« »Ja.«
    »Sie sind sehr zufrieden mit sich.«
    »Auch wenn Sie flüstern, ich höre noch alles.«
    »Tragen Sie eine Brille?«
    »Zum Lesen.«
    »Zum Lesen, aber nicht für die Entfernung? Sie verstehen, was ich mit Entfernung meine?«
    »Ich habe im Krieg Filme gedreht. Entfernungen zu berechnen, das habe ich in Stalingrad gelernt.«
    Es wurde gefährlich, dachte Arkadi. Er und Viktor gingen auf dem Zahnfleisch, weil sie nicht geschlafen hatten. Danke für den Tee, aber das Letzte, was sie gebrauchen konnten, war eine lebende Legende, die sich nach Abenteuern sehnte. An Viktors alarmiertem Gesichtsausdruck erkannte er, wie groß die Gefahr war, in der sie schwebten.
    »Also gut, Madame Furzewa«, sagte Arkadi, »dann erzählen Sie mir genau, was Woltschek und Primakow gesagt haben. Wort für Wort.«
    »Wort für Wort?«
    »Ja.«
    »In diesem sibirischen Genäsel sagte der eine: >Wo vergrabe ich ihren verdammten Kopf?< Und der andere sagte: >Am besten in deinem Arsch. Da ist deiner ja auch schon.< Der Erste sagte: >Sie wird eine echte Sauerei in dem verfluchten Lieferwagen machen.< Und der Zweite: >Scheiß dir nicht in die Hose. Sie ist lange genug tot; sie wird nicht bluten.< Dann waren sie plötzlich still, und da bin ich von der Tür weggegangen.«
    Sie zündete ein Streichholz an, als wollte sie damit einen Schlusspunkt setzen.
    »Das sind Männer, die keinen Spaß verstehen«, sagte Arkadi. »Haben Sie sie seitdem noch mal gesehen?«
    »Nein, aber gehört habe ich sie.«
    »Letzte Nacht?«
    »Ja.«
    »Können Sie sagen, um wie viel Uhr?«
    »Seit dem Abendessen. Sie haben geflucht und Bier getrunken und Fußball geguckt.«
    »Sind Sie absolut sicher, Madame Furzewa?«, fragte Viktor. »Die ganze Nacht? Hier?«
    »Jede Minute.«
    »Haben sie irgendein Interesse gezeigt, als der Bauwagen abgeholt wurde?« »Nein.«
    »Haben sie überhaupt irgendwann Interesse an dem Wagen gezeigt?« »Nein.«
    Viktor breitete erleichtert die Arme aus. Die Sibirer mochten so viele Opfer abschlachten, wie sie wollten - solange sie nichts mit dem Bauwagen zu tun hatten, war für diese Sauerei jemand anders zuständig.
     

NEUN
    Maja zu beobachten war eine Qual. Schenja sah ihre erfolglosen Versuche, Fahrgäste anzusprechen, die aus dem Frühzug aus Jaroslaw stiegen. Jetzt wirkte es sich zu ihrem Nachteil aus, dass sie sich auf der Reise so sehr zurückgezogen hatte. Niemand konnte sich an ihr orangerotes Haar oder an ihr Baby erinnern. Niemand hatte je etwas von Tante Lena gehört. Sie sprach von dem Kartenspiel und den Streitereien. Das ist wie immer in der Holzklasse, sagten die Leute. Sie mussten zur Arbeit. Keine Zeit zum Plaudern. Sie lief einem Popen nach, an den sie sich erinnerte, weil er Krümel im Bart gehabt hatte. Diesmal war er dünn mit Puderzucker überstäubt. Er konnte sich nicht an Maja entsinnen.
    Schenja sah, wie Maja unter den bohrenden Fragen mehrerer Babuschkas zusammenschrumpfte. Kindchen, wie konntest du denn ein Baby verlieren? Hast du zum heiligen Christopherus gebetet, Liebes? War es dein Brüderchen? In den alten Zeiten wäre das nie passiert. Nimmst du Drogen? Wenn eine Zigeunerin bettelt, sieht man das Baby wenigstens.
    Bahnsteige, Cafes, Wartesäle, Tunnel, Kinderecke, Flure und Schalterräume - es war zu viel, um alles abzusuchen. Der Weg durch die Fußgängerunterführungen war immer wieder versperrt durch Läden und Verkäuferinnen, die ihr mit Scheren und Nagelfeilen und Strümpfen und Kopftüchern die Zeit stahlen, bis Maja am liebsten geschrien hätte. Endlich fand sie sich in der Bahnhofshalle wieder, eine Schachfigur, die jeden denkbaren Zug getan hatte.
    Nicht jeden, dachte Schenja. Da waren noch ihr Rasiermesser sowie mehrere Züge zur Auswahl. In diesem Mosaik aus Familien und Händlern, die mit dem ersten Sonnenstrahl aufstanden, befand sie sich im freien Fall.
    Er setzte sich neben Maja auf einen Stuhl. Sie nahm keine Notiz von ihm, aber sie ging auch nicht weg. Sie saßen da wie alle anderen Reisenden und starrten unter schweren Augenlidern auf die Digitaluhr über den Anzeigetafeln für Ankunft und Abfahrt. Die Erschöpfung gewann schließlich die Oberhand über ihre Wut; sie atmete langsamer, und ihr Körper entspannte sich. Vermutlich hatte sie seit einem Tag nichts mehr gegessen. Schenja reichte ihr einen Schokoriegel.
    »Hat

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