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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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wirft.
    Danach kamen die Bilder von Viktors Befragungen. Die Prostituierten zeigten Genugtuung darüber, dass eine, die sich in ihr Revier gedrängt hatte, ausgeschaltet worden war. Zuhälter gaben sich staatsmännisch: Das Territorium musste verteidigt werden. Straßenjungen wirkten enttäuscht, weil die Leiche nicht zu besichtigen war. Obdachlose hofften auf ein bisschen Kleingeld. Betrunkene auf schwankenden Beinen führten Betrunkene an Krücken. Alles in allem eine menschliche Menagerie, aber kein Zeugenmaterial.
    Arkadi klickte zurück zu Vera.
    »Das ist eine unnatürliche Position.«
    »Und?«
    »Es ist eine Pose. Er hat sie umgebracht und die Leiche dann inszeniert. Er hat ihr das Höschen ausgezogen, damit wir gaffen. Gaffen, statt zu sehen. So jemand möchte uns blind machen. Das ist der halbe Spaß für ihn.«
    Doch für eine bestimmte Psyche war der Akt des Mordens erst dann vollständig befriedigend, wenn der Mörder sein Opfer erniedrigt und bewiesen hatte, dass er den Trotteln, die ihn fangen sollten, überlegen war. Es war immerhin möglich, dass irgendjemand in der Dunkelheit vor Stolz glühte.
     
    Das Gebäude hatte acht Stockwerke mit jeweils sechs Zwei-Zimmer-Wohnungen, aber Viktor und Arkadi besuchten nur die fünf, in denen Licht gebrannt hatte, als der Funkspruch gekommen war.
    Wohnung 2C. Woltschek und Primakow, zwei sibirische Bären mit verstohlenem Blick. Waldarbeiter, beide fünfunddreißig Jahre alt, in Zimmern, die so kalt waren, dass selbst die Klimaanlage zitterte. Der Blumenduft eines Luftauffrischers überdeckte einen fauligen Geruch. In der Badewanne lag eine Säge, der Kühlschrank enthielt Schimmel und einen Kasten Bier. Die beiden erklärten, sie hätten die ganze Nacht Karten gespielt und DVDs angesehen. Vor seinem geistigen Auge sah Arkadi, wie die beiden mit bloßen Händen Lachse aus einem Wildbach schleuderten.
    Wohnung 4F. Weitzman, neunzig Jahre, Witwer, pensionierter Metallurge, ein gläubiger Jude, der das Verbot der Tora, am Schabbes Geräte in Betrieb zu nehmen, ernst nahm. Vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag war es verboten, auch nur einen Schalter zu betätigen oder an einer Skala zu drehen. Wenn er den Aufzug benutzen wollte, musste er einsteigen und warten, bis jemand zu seinem Stockwerk fuhr. Er hatte sein Leben so gestaltet, dass jeder denkbare Fehltritt einkalkuliert war, aber er war während eines Dokumentarfilms über Putins frühe Jahre - »Ein ganz normaler Junge!« - vor dem Fernseher eingenickt und aufgewacht, als die Sendung wiederholt wurde. Inzwischen hatte er den Film sechsmal gesehen. Als Arkadi den Fernseher ausschaltete, war es, als schneide er einen Mann vom Galgen ab.
    Wohnung 4D. Armeegeneral Kassel, zweiundvierzig Jahre alt, öffnete sofort die Tür, bekleidet mit einem zivilen Regenmantel und Schuhen. Der General war wohnhaft in Sankt Petersburg und angeblich in militärischen Angelegenheiten in Moskau, obwohl Arkadi leere Champagnerflaschen auf dem Boden sah und eine nicht identifizierte Frau im Schlafzimmer schluchzen hörte.
    Im Flüsterton erklärte Kassel, er sei nur auf der Durchreise, ein schwarzer Bauwagen in hundert Metern Entfernung sei ihm im Dunkeln nicht aufgefallen, und er wisse nichts über irgendwelche Vorgänge dort.
    Arkadi fragte den General, seit wann er wach sei.
    »Sie haben mich geweckt.«
    »Waren Sie den ganzen Abend hier?«, wollte Viktor von ihm wissen.
    »Mit meiner Frau.« »Und außer Ihrer Frau?« »Mit niemandem.«
    Eine klägliche Lüge, schlecht vorgetragen - es sei denn, Kassel hätte halb bekleidet geschlafen. Und die schmutzigen Gläser und vollen Aschenbecher waren von mehr als nur zwei Personen hinterlassen worden. Außerdem verlagerte Kassel sein Gewicht ständig nach vorn auf die Zehen, als warte er auf etwas. Als mache er sich auf etwas gefasst.
    Vielleicht hatte Kassel etwas zu verbergen. Aber wer hatte das nicht? Wie Viktor gern sagte: »Das ist das Problem bei Vernehmungen: so viele Lügen, so wenig Zeit.«
    Wohnung 3 С . Anna Furzewa, mit achtundachtzig Jahren eine lebende Legende. Arkadi und Viktor wussten nicht, dass sie die Anna Furzewa war, bis eine kleine, herrische Frau in einem prunkvollen Kaftan die Tür öffnete. Ihre Lippen bestanden hauptsächlich aus Lippenstift, und die Augen waren mit Kajal schwarz umrandet. Hinter ihr standen lebensgroße Fotos von Schwarzen mit Penisscheiden, die Haare mit den Federn von Paradiesvögeln geschmückt. Fotos von

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