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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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diese Frau angerufen?«
    Es dauerte einen Moment, bevor Schenja begriff, welche Frau sie meinte.
    »Die Bahnsteigschaffnerin? Nein, sie hat sich noch nicht gemeldet. Aber sie hat meine Handynummer.«
    »Bist du sicher?«
    »Ich habe sie ihr gegeben.«
    »Sie schien in Ordnung zu sein.«
    Schenja zuckte die Achseln. Soziale Kompetenz war nicht seine starke Seite. Tatsächlich bestand einer der ansprechendsten Aspekte des Schachspiels für Schenja darin, dass der Sieg augenfällig war. Scheiß auf jede Konversation. Der Gewinner brauchte nichts weiter zu sagen als »Schach« und »matt«. Das Problem war, dass er selbst entweder großmäulig oder stumm war. Manchmal, wenn er sich selbst hörte, fragte er sich: Wer ist dieses Arschloch? Das wusste er, und ihm war auch klar, wie jämmerlich er in der ersten Runde mit Maja gescheitert war. Die Atmosphäre war angespannt, aber jetzt musste er etwas sagen, denn Miliz mit Gummiknüppeln hatte den Warteraum betreten, um die Obdachlosen zu vertreiben, die sich in der Nacht hereingeschlichen hatten. Das Kommando hatte der Leutnant, der Maja gejagt hatte.
    »Gehen wir an die frische Luft«, sagte Schenja. »Kommen wir zurück?«, fragte Maja. »Ja.«
    »Ohne den Ermittler?« »Okay.«
    Der kahl rasierte Schädel ließ ihre Augen riesengroß erscheinen.
    »He, ihr zwei!«, schrie der Leutnant, als sie aufstanden, aber seine Aufmerksamkeit war gleich wieder abgelenkt, als ein Straßenjunge jemandem eine Handtasche entriss und zur Unterführung flitzte. Schenja bugsierte Maja in die andere Richtung und durch die Schwingtüren hinaus auf das, was er immer als einen Markt der Scheiße empfunden hatte. Spielzeugscheiße, Souvenirscheiße, Pelzmützenscheiße und Posterscheiße unter einem Himmel aus schwebender Scheiße. Aber heute war ihm das alles willkommen.
     
    Sie stöberten an den Ständen. Um Majas Garderobe zu vergrößern, kaufte Schenja ihr Stones-, Putin- und Cobain-T-Shirts, ein »Cafe Hollywood«-Sweatshirt, eine Kappe aus Saint Tropez und eine Perücke aus indischen Menschenhaaren. Maja ging verwundert neben ihm her, als habe sie ihn dabei ertappt, dass er mit Puppen spielte, bis sie an einen Kiosk kamen, wo es Handys gab.
    Schenja hatte zwar fast sein ganzes Geld ausgegeben, aber er entschied, dass sie ein Handy brauchte, falls sie getrennt würden. Der Kiosk war so vollgestopft mit Elektronik- und Videokram, dass sich die beiden Händler darin im Wechseltakt bewegen mussten. Es waren Albaner, Vater und Sohn, die aussahen wie geklont. Ihre engen Hemden waren so weit aufgeknöpft, dass man goldene Ketten und Brustbehaarung sehen konnte. Sie waren bereit, Schenja ein erstklassiges Handy mit SIM-Karte zu verkaufen, ohne Vertragsbindung, ohne monatliche Grundgebühr. Ohne Beschiss. Sie zeigten Schenja das unversehrte Siegel an der Verpackung eines ähnlichen Telefons.
    »Das ist geklaut«, sagte Schenja.
    Die beiden Händler wechselten einen Blick, sahen den Jungen an und lachten.
    »Wie kommst du darauf?«
    »Der Strichcode. Ist ganz einfach. Man lässt den ersten und den letzten Strich weg, teilt die übrigen in Fünfergruppen auf, addiert die Ziffern unter den langen Strichen und erhält eine Postleitzahl. Den Bestimmungsort kann man auch ermitteln. Diese Verpackung sollte von Hannover nach Warschau gehen und ist unterwegs geklaut worden. Ihr solltet das der Miliz zeigen. Soll ich mir die anderen Schachteln auch ansehen?«
    Die Leute blieben stehen und hörten Schenjas ausdrucksloser Roboterstimme zu.
    »Die anderen Schachteln?«
    »Alle Schachteln.«
    Immer mehr Leute drängten sich heran. Traditionell gehörte auf jeden Markt auch ein Unterhaltungsprogramm - ein Puppentheater oder ein Tanzbär. Heute gab Schenja den Tanzbären.
    »Für gestohlene Ware sollte ich eigentlich nicht den vollen Preis bezahlen müssen«, sagte Schenja. »Und die Garantie ist wahrscheinlich auch ungültig, wenn die Sachen geklaut sind.«
    »Mach, dass du wegkommst, du Spinner«, sagte der Sohn. Aber der Alte konnte zählen und hatte erfasst, dass inzwischen ein beträchtliches Publikum zusammengekommen war.
    Das Schutzgeld, das er bezahlte, versicherte ihn gegen Gewalttätigkeit - gegen Brandstiftung oder Ziegelsteine, die durch ein Fenster flogen. Das aufrührerische Geschwätz eines Klugscheißers, der Strichcodes lesen konnte, war damit nicht abgedeckt. Und wenn er dieses kleine Arschloch jetzt erwürgte, könnte die Miliz aufmerksam werden. Genauso gut könnte er einen

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