Die goldene Meile
wie vergeblich es ist, wenn ein einzelner Mann mit hundert Prostituierten und Verrückten redet, um einen nüchternen und verlässlichen Zeugen zu finden? Wenn ich gefragt hätte: >Hat hier jemand eine gigantische Spinne gesehen?<, wäre ich vielleicht weitergekommen. Wir haben niemanden identifiziert, wir haben keinen Zeugen, keinen Tatort und keine Unterstützung.« Viktor warf einen sehnsüchtigen Blick auf einen Kiosk mit Regalen voller Wodkaflaschen. Arkadi spürte, wie Viktors Stimmung in den Keller ging, wie machtvoll sein Durst wurde.
»Hast du einen guten Anzug?«, fragte er.
»Was?«
»Hast du etwas zum Anziehen für die Milliardärsmesse heute Abend? Wir haben eine Einladung, aber wir müssen hineinpassen.«
»Du und ich bei den Milliardären?«
»Ich fürchte ja. Aber denen ist es in letzter Zeit auch nicht gut gegangen.«
»Hm. Was soll ich zu einem Blutsauger sagen, der eine Million Dollar verloren hat?«
»Du könntest dein Mitgefühl zum Ausdruck bringen.«
»Ich könnte ihn auch umbringen und an die Schweine verfüttern.«
»Oder irgendetwas dazwischen.«
Allmählich gingen Lichter in dem Wohnblock gegenüber vom Bahnhof an. Ehefrauen würden dort aufstehen, ihre Kinder anziehen und das Frühstück machen. Männer würden auf der Bettkante sitzen, die erste Zigarette des Tages rauchen und sich fragen, was mit ihrem Leben passiert war.
Eva zum Beispiel war aus Arkadis Leben verschwunden wie eine Schauspielerin, die mitten im Stück entschieden hatte, dass ihr Text im ersten Akt schlecht war, aber im zweiten noch schlechter. Sie hatte ihm geschrieben: »Ich werde nicht dableiben und warten, bis sie dich umbringen. Ich werde nicht die trauernde Witwe eines Mannes sein, der hartnäckig darauf besteht, die Henker dieses Staates zu reizen. Ich werde nicht da sein, wenn jemand dich im Auto erschießt, im Aufzug, oder wenn du die Wohnungstür öffnest, weil es geklingelt hat, und ich werde auch nicht in deinem Leichenzug mitgehen.«
Arkadi fand diese Worte ein wenig zu hart. Sogar rückschrittlich, wenn man bedachte, dass sie als Medizinerin freiwillig dem Sirenenruf jeder Katastrophe gefolgt war. Dass sie sich in Tschernobyl kennengelernt hatten, hätte eigentlich ein Zeichen sein sollen. Sie liebten einander, aber die Halbwertzeit dieser Liebe war kürzer, als er angenommen hatte.
»Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben«, sagte Viktor. »Bei einer toten, unidentifizierten Prostituierten. Ich habe beim Vermisstendezernat nachgefragt. Bisher hat niemand sie vermisst.«
»Wir können die Wohnungen zusammen abklappern.«
»Müssen wir das? Ich meine, was hat es für einen Sinn? Niemand interessiert sich für eine tote Prostituierte.«
»Und wenn sie keine ist?«, fragte Arkadi. »Was ist, wenn Vera keine Prostituierte war?«
»Du machst Witze.«
»Was ist, wenn sie keine war?«
»Entschuldige, aber es ist das Einzige, was wir bei diesem Fall mit Sicherheit wissen: Vera war eine Prostituierte. Sie war gekleidet wie eine Prostituierte, tätowiert wie eine Prostituierte, und sie hat ihr Höschen ausgezogen wie eine Prostituierte, in einem Bauwagen, in den kein normaler Mensch einen Fuß setzen würde.«
»Allen ist aufgefallen, dass sie keine Schramme am Körper hatte, keine blauen Flecken. Keine Einstichmale. Viktor, zeig mir hier eine Prostituierte, die nicht auf die eine oder andere Weise versehrt ist.«
»Sie war neu in dem Spiel, weiter nichts. Frischfleisch. Hör zu, ich weiß, was du vorhast. Du willst mich rumscheuchen, damit ich nicht ans Trinken denke. Ich bin nicht dein Hund, den du hinter einem Ball herjagen kannst.« Viktor grinste boshaft. »Mann, für was zu trinken könnte ich einen Mord begehen.«
»Wo sind ihre Ringe? Nach den hellen Streifen an ihren Fingern zu urteilen, hatte sie fünf Stück. Sie waren nicht in ihrer Tasche.«
Einen Augenblick lang dachte Arkadi, Viktor würde ihn schlagen. Aber Viktor seufzte nur. »Wahrscheinlich hat der Mann, mit dem sie zusammen war, sie genommen. Vielleicht war es das: ein Raubmord.«
»Um einer Nutte ihren billigen Schmuck zu klauen? Hast du Bilder gemacht?«
Viktor holte eine kleine Digitalkamera aus der Tasche. »Viel Spaß damit.«
Das erste Bild auf dem Display zeigte Vera halb nackt auf der Matratze, den Kopf zur Seite gewandt, die Beine überkreuz, sodass die rechte Ferse den linken Zeh berührte. Der rechte Arm war über den Kopf gehoben wie bei einer Braut, die ihren Hochzeitsstrauß über die Schulter
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